Full text: Grundlegung der Ethik als Wissenschaft

das bedeutsame Geschenk des großen Nazareners, der mit dieser 
Erleuchtung dem Sittlichen den wurzelechten Sinn gegeben hat. 
Die vorchristlichen Ethiker kannten jene Unterscheidung „Glück 
Seligkeit wollen — selbstloses Wollena noch nicht, mit der 
christlichen Zeit tritt sie in die Welt, und es beginnt sogleich 
der Versuch, das Sittliche in dem selbstlosen Wollen aufzudecken 
und eine Ethik des selbstlosen Wollens zu gewinnen, die wir 
die „Liebesethik“ nennen. Über diese Bezeichnung wird 
weiter unten das Nähere dargelegt. Wir treffen diese Ethik zu¬ 
nächst als christliche Religionsethik in der Geschichte 
an, die sich als solche deutlich von jener Religionsethik, die 
wir als Pflichtethik kennen lernten, unterscheidet und daher 
nicht mit ihr irgendwie verwechselt werden darf1. 
Der Liebesethikgruppe gehört ferner die Ethik Arthur Schopen¬ 
hauers an, wenn sie gleich statt des Wortes „Liebe“ das Wort 
„Mitleid“ einsetzt; über ihren wissenschaftlichen Wert wird 
weiter unten gehandelt werden. Zu dieser Gruppe gehört end¬ 
lich auch der Versuch einer Ethik als Wissenschaft, den ich kn 
folgenden darlegen will. 
7- 
a) 
Indem wir nunmehr daran gehen, eine Ethik als Wissen¬ 
schaft auf Grund der Tatsache „selbstloses Wollen“ zu ge¬ 
winnen, so liegt uns in erster Linie ob, diese Tatsache selbst 
fraglos klarzustellen; um dieser Klarheit willen können wir 
aber nicht umhin, zunächst vom Wollen schlechtweg, als dessen 
Besonderung eben das selbstlose Wollen dasteht, zu handeln. 
Daß es Wollen nicht gibt, es komme denn einem Wesen 
zu, das wir dann wollendes Wesen nennen, darf hier voraus¬ 
gesetzt werden. Wir bemerken dies aber doch ausdrücklich, 
weil die Dreideutigkeit des Wortes „Wille“, das in unserem 
1 Freilich teilt sie als Religionsethik mit jener das Schicksal mit ihrem 
Ansatz nicht auf Wirklichkeitsboden zu stehen und daher ein unzurei¬ 
chender Versuch einer Ethik zu sein. 
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