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Alle in der Geschichte vorliegenden Versuche, in einer
Pflichtethik, sei es Gebotethik, sei es Gesetzethik, die Ethik
als Wissenschaft zu gewinnen, erweisen sich als unzuläng¬
lich, sie alle aber stimmen darin überein, daß ihnen „sittlich“
nicht mehr, wie zunächst dem vorwissenschaftlichen Bewußt¬
sein, soviel wie „der Sitte gemäß“ bedeutet und sich mit diesem
deckt, wenn auch „sittlich“, übereinstimmend mit „der Sitte
gemäß“, eben das wollende und handelnde menschliche Be¬
wußtsein angeht. Und wenn wir das „sittliche“ Wollen der
Pflichtethik als „pflichtiges“ Wollen bezeichnen, so treffen
„sittlich“ und „der Sitte gemäß“ wiederum darin zusammen,
das alles der Sitte gemäße Wollen eben pflichtiges Wollen ist.
Aber doch fallen „sittlich“ und „der Sitte gemäß“ auch beim
pflichtigen Wollen keineswegs zusammen, indem das Wollen
in der Pflichtethik nicht etwa auf „Lebenseinheit“ eingeschränkt
ist, sondern das Pflichtwollen in der Herrschaftseinheit („Du
sollst“) einschließt, bei dem ja von „der Sitte gemäßem Wollen“
und Willenshandeln nicht die Rede sein kann. So ist dann in
der Tat das Sittliche der Pflichtethik immerhin der „Sitte“
schon entrückt, wenn auch das der Sitte gemäße Wollen schlecht¬
weg als Pflichtwollen zu begreifen ist. Und das Letzte darf nicht
übersehen werden, wie dies wohl nicht selten geschieht, indem
man beim Pflichtwollen den Blick gerne nur auf das Pflicht¬
wollen in der Herrschafteinheit („Du sollst“) einstellt und
somit nur an ein Zwangs wollen denkt. Gibt es doch nicht nur
Pflichtwollen als Zwangswollen, wie es allerdings jede Herr¬
schaftseinheit ausnahmslos zeigt. Denn selbst, wenn alles
Pflichtwollen Zwangswollen wäre, wie z. B. Kant offensichtlich
meint, da er die Neigung aus dem Pflicht wollen schlechthin
gestrichen wissen will, würde das Pflichtwollen doch nicht nur
auf das Sollen allein gestellt, also auf die Herrschafteinheit be¬
schränkt sein. Wie vieles Pflicht wollen einer Lebenseinheit, die
eine „Gesellschaft“ ist. erweist sich als Zwangswollen, indem
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