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Wenn man sagt, „Sitte“ bedeutet den Brauch oder das Her¬
kommen einer Lebensführung innerhalb einer Lebenseinheit,
so trifft diese Sinnbestimmung des Wortes „Sitte“ keineswegs
ins Schwarze. Nicht weil eine Lebensführung, was wir immer¬
hin zugeben könnten, sich als Brauch oder Herkommen in der
Lebenseinheit gibt, sprechen wir von ihr als „Sitte“, sondern
weil menschliches Bewußtsein, ist es anders „Mitglied“ oder
„Glied“ dieser Lebenseinheit, die in der „Sitte“ gemeinte beson¬
dere Lebensführung wollen muß, denn ein menschliches
Bewußtsein ist nicht oder nicht mehr Lebenseinheitler, wenn
es die als Sitte bekannte Lebensführung nicht erfüllen will. So
innig verknüpft sind „Sitte“ und „Lebenseinheit“, so wesentlich
gehört die Sitte zur Lebenseinheit selbst, daß das menschliche
Bewußtsein, sofern und solange es Lebenseinheitler ist, mit
anderen Worten, die Lebenseinheit will, schlechtweg die als
Sitte bekannte Lebensführung wollen muß. Eine besondere
Lebenseinheit wollen heißt „Lebenseinheitler sein“, und Lebens¬
einheitler sein heißt eine Lebenseinheit wollen. Darum muß
der Lebenseinheitler auch das, was eben aus der Lebenseinheit
erwächst, nämlich die als Sitte bekannte Lebensführung wollen.
Wir sagen mit Betonung, es müsse menschliches Bewußtsein,
sofern es überhaupt tatsächlich Lebenseinheitler ist, die als Sitte
bekannte Lebensführung wollen. Wollen müssen heißt aber
allemal etwas anderes als Wollen sollen. „Müssen“ und „Sollen“
werden jedoch leider so häufig nicht auseinandergehalten. Kein
menschliches Bewußtsein kann als Lebenseinheitler der Sitte
seiner Lebenseinheit zuwider wollen und wenn ein Bewußtsein
dennoch der bestimmten Sitte zuwider will, so ist dies überhaupt
nur möglich, weil es zu solcher Lebenseinheit nicht oder
nicht mehr gehört. „Lebenseinheitler sein“ ist ja einzig und
allein auf „Lebenseinheit wollen“ gestellt.
Das Wort „Sitte“ betrifft eben die besondere Lebensführung
menschlichen Bewußtseinswesens als Lebenseinheitlers; die Worte
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