Schritten der saarländischen Parteien in Genf immer stärker zutage trat.
Die erste Sitzung des Landesrates am 19. Juli 1922 war nicht nur benutzt
worden, um die demokratischen Rechte und eine Revision der Gesetzgebung
der Regierungskommission zu fordern, sondern auch um ein durch Volks¬
wahl legitimiertes Treuebekenntnis zu Deutschland abzulegen. Die von
Dariac gefürchtete Bedeutung des saarländischen Landesrates offenbarte
sich damit bereits in der ersten Sitzung. Ein wesentliches Anliegen der Par¬
teien war die Vorbereitung des Plebiszits. Nach der Ratsdebatte von 1923
und dem Rücktritt der Regierung Poincare strebten die politischen Parteien
daher eine ernsthafte Revision des Versailler Vertrages an. Zum erstenmal
zeigte sich das eindeutig in dem offenen Brief an Edouard Herriot vom
2. Dezember 1924, der von den Fraktionsführern der Zentrumspartei
(Levacher) und der Deutsch-Saarländischen Volkspartei (Schmelzer) unter¬
zeichnet war. Die Einleitung des Briefes lautete:
„Herr Ministerpräsident! Dank der Politik der gegenwärtigen französlsdien Re¬
gierung, die getragen ist von dem Willen der Mehrheit des französischen Volkes,
ist eine weitgehende, von der Saarbevölkerung längst herbeigesehnte Entspannung
in den Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich eingetreten. Große Hoff¬
nungen für eine friedliche Entwicklung der Verhältnisse in Europa knüpfen sich
an diese Tatsache.
Natürlicherweise ist die Saarbevölkerung an dieser Entwicklung außerordentlich
interessiert, da sie von jeder Störung der Beziehung der beiden Völker, welcher
Art sie auch sein mag, zuerst betroffen und geschädigt wird.
Es kann also für die Saarbevölkerung keine größere Lebensfrage geben als die
Tatsache, daß wirklicher Friede zwischen den beiden großen Völkern besteht. Ein
wirklicher Friede ist aber nur dann möglich, wenn die beiden Völker in der gegen¬
seitigen Achtung der Nationalität und in der Berücksichtigung beiderseitiger Inter¬
essen so weit gehen, daß sie alles vermeiden, was die nationale Eigenliebe des
anderen Volkes oder seiner Angehörigen verletzten muß.“ 232
Der erste Teil der eigentlichen Ausführungen beschäftigte sich dann mit der
wirtschaftlich nicht einträglichen französischen Saarpolitik, die wie die
übrige Politik der Regierungskommission (französische Schulen, Propaganda
und Militär) nicht mit dem Geist der gegenwärtigen französischen Regie¬
rung übereinstimmten. Die weiteren Abschnitte verlangten über den bereits
angelaufenen Abbau französischer Positionen hinaus, daß Eisenbahnen, Post
und Telegraphie an die deutsche Reichsregierung verpachtet würden, da
sie, wie die Defizite erwiesen, im gegenwärtigen Zustand unrentabel seien.
Außerdem wandte man sich gegen die für den 10. Januar 1925 vorgesehene
endgültige Eingliederung in das französische Zollsystem. Es wurden ge¬
wichtige wirtschaftliche Gründe für diese Forderungen aufgezählt, doch
war wesentlich, daß man die Situation für gekommen hielt, eine Revision
der Saarverhältnisse im Sinne einer Berücksichtigung der deutschen Natio¬
nalität der Bewohner erwarten zu dürfen.
Diese direkte Wendung an einen französischen Staatsmann zur Revision
der Saarpolitik war ein Einzelschritt in dem Gesamtbemühen der Saar¬
parteien zu dieser Zeit. Man wollte die hier angeklungenen Ziele doch auf
232 S.L.Z. Nr. 324 v. 13. 12. 1924.
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