gegriffen und nach Anhörung der beiden Parteien entschieden würden. Die
Begründung dieser Bitte appellierte ganz bewußt über die Berufung auf die
Paragraphen 19, 23, 26 und 30 des II. Kapitels des Saaranhanges des
Friedensvertrages hinaus an den demokratischen Geist des Völkerbundes.
Darin lag bereits ein schwieriges Problem. In der Forderung der politischen
Parteien nach Erweiterung ihrer Rechte gingen sie über die Vertragsbestim¬
mungen hinaus und wollten in dieser Richtung eine gewisse Revision. Sie
schien ihnen aus dem Geist des Völkerbundes notwendig und hätte sie aus
der Alternative von Akklamation und Obstruktion herausgeführt. Die Re¬
gierungskommission hielt sie für unannehmbar, Rault fürchtete die Dyna¬
mik einer solchen Entwicklung. Das Sekretariat wollte eine Art Mittelweg
beschreiten, indem Instanzen geschaffen wurden, die durch ihre Zusammen¬
setzung den Voten der Bevölkerung größeren Einfluß und größeres Gewicht
verleihen sollten. Das tatsächliche Gesetz über den Landesrat146 konnte so
den Forderungen der saarländischen Parteien nicht entsprechen und rief
erneut an der Saar höchste Erregung hervor, ganz besonders bei den Sozial¬
demokraten 147. Der mangelnde Einfluß der Bevölkerung bei der Gesetz¬
gebung während der beiden ersten Jahre hatte das Mißtrauen und die Er¬
bitterung gegen die Regierungskommission so genährt, daß man zunächst
stärker die negativen, denn die positiven Seiten in der Landesratsverord¬
nung sah.
Als Rault durch Colban verhindert wurde, das „Gesetz Ebert“ gleichzeitig
mit der Verordnung über den Landesrat einzuführen, wurde eine andere
Vereinbarung getroffen, die das Ansehen der Regierungskommission gegen¬
über möglicher Opposition stärken sollte, und zwar scheint das auf Ini¬
tiative Frankreichs geschehen zu sein, das wenigstens die bestehende Zu¬
sammensetzung der Kommission garantiert wissen wollte. Es wurde an¬
geregt, daß der bestehenden Kommission eine Erneuerung ihrer Mandate
bis 1925 in Aussicht gestellt werde148. Das war von den Ratsmitgliedern
nur schwer zu erreichen. Englands Zustimmung blieb bis zur Ratssitzung
ungewiß149. Das Völkerbundssekretariat selbst wollte Moltke-FIuitfeldt aus-
146 Amtsblatt der Reg.-Kom. für d. Saargeb. v. 24. 3. 1922, Nr. 143, S. 41 f.
147 Vgl. dazu unten S. 184.
148 S.D.N. Archives des Sections du Secretariat, Section Pol. Sarre, Nr. 56,2. Damals
(1919—1925) war der Franzose Jean Monnet, der spätere Präsident der Montan¬
union, stellvertretender Generalsekretär des Völkerbundes; er machte Colban den
Vorschlag, man könne Rault den Vorsitz bis 1925 lassen, dann könne ein Neutraler
und die letzten 5 Jahre ein Saarländer Präsident werden. An Monnet wandten sich
wiederholt Colban und Gilchrist, wenn sie Schwierigkeiten mit Rault oder dem
Quai d’Orsay hatten.
149 Ebenda Nr. 57, Aktenstück Conseil Consultatif; Ende März 1922 verhandelte Colban
in Paris wegen der Angelegenheit des Landesrates, des Rücktritts von Moltke-Huit-
feldt und der Zusicherung zur Verlängerung der Mandate der Kommissionsmitglieder
bis zum Jahre 1925; vertraulicher Brief Colbans an Gilchrist v. 27. 3. 1922, in dem
er ihn über diese Verhandlungen unterrichtete. Fisher (England) und Graf Imperiali
(Italien) forderten, daß Moltke-Huitfeldt, wenn er erneut bestätigt werde, bis Februar
1923 seinen Rücktritt einreiche. Der Vorgang erhellt die Arbeitsweise des Sekretariats
und des Rates des Völkerbundes. Colban verhandelte vor allen Ratstagungen, auf
denen Saarfragen behandelt wurden, mit den Ratsmitgliedern und versuchte Klarheit
über die politische Konstellation zu erlangen und Gegensätze durch diplomatische
Verhandlungen bereits vorher in Kompromissen auszugleichen.
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