„die Regierungskommission es als ihre Pflicht betrachte, das Vertrauen der
Bevölkerung zu gewinnen“; außerdem versprach sie die Förderung von In¬
dustrie und Handel, Schutz gegen jede Ausbeutung der Saarländer und
wandte sich besonders wohlwollend an die Arbeiterschaft und kündigte die
Berücksichtigung der Wünsche der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände
an77. Neben einer so konzipierten Arbeit zum materiellen Wohl der Bevöl¬
kerung stand in Erfüllung des Vertrages die Wiederherstellung der Frei¬
heiten (besonders der Presse- und Vereinsfreiheit) der Bevölkerung78. In der
anfänglichen Hoffnung auf gute Zusammenarbeit trug Rault dem Wunsch
der Lokalvertretungen, die für eine Erhöhung der französischen Kohlen¬
steuer eintraten, Rechnung79 und versuchte die Arbeiter im Beamtenstreik
auf die Seite der Regierungskommission zu ziehen80. Die Hoffnung auf ein
Gelingen dieser Politik hielt er auch noch aufrecht, als die Proteste wuchsen;
in seinen Berichten nach Genf sprach er davon, daß die Bevölkerung nur von
einer kleinen Gruppe von Journalisten und Agenten des Deutschen Reiches
irregeleitet werde81. Besonders war er überzeugt, daß die Arbeiterschaft zu
gewinnen sei82. Aufschlußreich für den Glauben Raults ist wieder das Zeug¬
nis Prious, der darlegte, daß das Verhältnis zur Arbeiterschaft im ganzen
gut sei, und Befürchtungen für die zukünftige Entwicklung hatte Priou nur
für den Fall, daß sich die wirtschaftliche Lage ungünstig gestalten würde;
auch die Beziehungen der Saarländer zur Regierungskommission sah er nur
unter dieser Perspektive83.
Zu diesem Grundzug trat eine Art juristischen Denkens, das der Situation
unangemessen war. Rault glaubte, daß der abgeschlossene Vertrag in allen
seinen Konsequenzen, also auch einschließlich der schweren politischen
Opfer, die er der rein deutschen Bevölkerung auferlegte, als rechtsetzend
nicht nur in positivistischem Sinne, sondern im Sinne einer neuen morali¬
schen Rechtsordnung von der Bevölkerung anzunehmen sei. So forderte
seine Proklamation Gehorsam gegenüber dem Friedensvertrag84, und seine
77 Ebenda, S. 107; Deutsches Weißbuch, S. 71—73; die Zitate aus der Proklamation
folgen der Übersetzung des Deutschen Weißbuches.
78 S.D.N. J.O. 1,3 (1920), S. 103 f., „Adoption des mesures liberales“.
79 S.D.N. Com. d. Gouv. Sarre, Pr.-V., Sitzung vom 11. 9. 1920, S. 251, „Or les
assemblées locales qui viennent d’être consultées se sont unanimement prononcées
pour le maintien intégral de la loi allemande, c’est-à-dire pour les taux de 20 ®/o. Il
y a là un courant d’opinion politique très fort dont la Commission a le devoir de tenir
compte.“ Zur Frage der Kohlensteuer Näheres unten S. 134 ff.
80 Deutsches Weißbuch, Dokumente Nr. 131 (S. 197) und Nr. 135 (S. 200 f.).
si S.D.N. J.O. 1,3 (1920), S. 102; 1,4 S. 197; 1,5 S. 278; 1,5 S. 284f.
82 Priou, a. a. O., S. 129; S.D.N. J.O. 1,4 (1920), S. 198: Bericht über den Besuch des
Direktors des Internationalen Arbeitsamtes Thomas in Saarbrücken und seine Aus¬
sprache mit Vertretern der Arbeiter- und Angestelltenorganisationen und mit der
französischen Grubenverwaltung. J.O. 1,5 (1920), S. 276: Bericht über die Feier des
1. Mai in Saarbrücken mit einem Zug von 40 000 Menschen, der großen Disziplin
der Arbeiterschaft: „...aucun hymne révolutionnaire ou nationaliste n’a été chanté;
aucun discours séditieux n’a été prononcé. Le président s’est félicité d’avoir confiance
à la population en donnant les autorisations que les chefs socialistes avaient solicitées
et d’avoir réussi, par les quelques précautions qu’il avait prescrites, à éviter tout
désordre.“
83 Priou, a. a. O., S. 129.
84 Vgl. Anm. 77 oben.
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