Ausbau des Saarsystems. Überdies sahen die saarländische Arbeiterschaft,
die Zentrumspartei und vor allem die Sozialdemokratische Partei im Über¬
gang zur Republik in Deutschland den großen politischen und sozialen Fort¬
schritt, und das Deutschland von Weimar wurde zu einer Art sozialpoliti¬
schem Idol. Daneben blieben die Komponenten des traditionellen deutschen
Nationalbewußtsein, nämlich die Verbundenheit mit der deutschen Nation
als völkischer, sprachlicher und kulturell-historischer Einheit, bestehen. Das
zeigte sich etwa in der Schärfe des Kampfes gegen die französischen Doma-
nialschulen und der Abwehr jedes kulturellen französischen Einflusses. Für
die Zentrumspartei des Saargebietes und die Katholiken allgemein wurde,
besonders unter dem Einfluß Bischof Bornewassers, eine theologische Be¬
gründung des Nationalbewußtseins entwickelt. Treue zu Volk und Vater¬
land erschien als sittlich-religiöse Pflicht. Die Argumente für die praktische
Politik aller saarländischen Parteien wurden jedoch zunächst und vor allem
aus der Begegnung mit den westlichen Vorstellungen gewonnen. Zum Unter¬
schied gegenüber der deutschen Entwicklung prägte daher ein positives Ver¬
hältnis zu Demokratie, Republik und Völkerbund das politische Leben des
Saargebietes. Diese Ideen wurden um so festerer Bestandteil der politischen
Theorie der saarländischen Parteien, als sich bereits seit 1922 in steigendem
Maße der Erfolg einer Politik auf ihrer Basis abzeichnete. Sekretariat und
Rat des Völkerbundes und die Weltöffentlichkeit schalteten sich besonders
1923 in die Kritik des Saarsystems ein, und der französische Einfluß im
Saargebiet und in der Regierungskommission wurde seither schrittweise
zurückgedrängt. Die saarländischen Parteien gewannen seit der Errichtung
einer Art saarländischen Parlamentes (Landesrat) mit beratender Funktion
im Jahre 1922 einen entscheidenden Anteil an der Mitgestaltung der inner¬
saarländischen Verhältnisse. Da die Regierungskommission angesichts der
Kontrolle des Rates, der Kritik der Saarländer und der internationalen
Presse ihre Aufgabe, zum Wohle der Saarländer zu regieren, besonders ernst
nahm und die Saarländer ihre wirtschaftlichen und sozialen Wünsche über¬
dies auch beim Völkerbund, der deutschen und französischen Regierung
geltend zu machen wußten, entwickelte sich das Saargebiet zu einem relativ
wohlhabenden Land. Die Funktion des Schutzes der Rechte, des Wohles und
der nationalen Selbstbestimmung der Saarländer, die Wilson dem System
zugedacht hatte, wurde erfüllt. Trotz der anfänglichen Verbiegungen des
Saarstatuts bewährte sich das System im wesentlichen auf der Grundlage
seiner Internationalität und der Ideale der Völkerbundskonzeption. So
waren im Saargebiet sehr früh positive Faktoren des Pariser Vertragswerkes
zum Tragen gekommen; politisch fand das vor allem seinen Ausdruck darin,
daß trotz des alles durchformenden Nationalismus der Saarländer sich
rechtsradikale Parteien im Saargebiet nicht entwickelten und selbst die
Deutschnationale Volkspartei bedeutungslos blieb und sich an der Saar der
demokratischen Ideenwelt stärker annäherte als im Deutschen Reich.
Da das System für die nationale Selbstbestimmung der Saarländer funktio¬
nierte, kam es dazu, daß spätestens 1925 für die Weltöffentlichkeit und für
Frankreich klar wurde, daß für die Saarbevölkerung nur eine Option für
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