Der Vertrag von Versailles faßte zum erstenmal in der Geschichte das Saar¬
gebiet, das heute in etwas veränderter Gestalt ein eigenes Bundesland dar¬
stellt, politisch zusammen und trennte es von den Ländern Preußen und
Bayern ab, zu denen es seit dem Ersten und Zweiten Pariser Frieden gehört
hatte1. Die Abgrenzung des Gebietes ergab sich aus wirtschaftlichen Gesichts¬
punkten. In der Denkschrift der französischen Delegation zur Friedenskon¬
ferenz von Versailles war unter dem Abschnitt II „Wirtschaftliche Repara¬
tion“ ausgeführt:
„. . . das Saarbecken ist ein Ganzes, dessen drei Bestandteile die folgenden sind:
die bergbauliche Zone, noch sehr unvollkommen entwickelt; sodann die Industrie¬
zone, aus der ersteren hervorgegangen; schließlich die Arbeiterzone, die über die
beiden anderen hinausgreift und mit ihnen durch Eisenbahnlinien verbunden ist,...
c) In diesem Becken, von dem alle Teile miteinander Zusammenhängen, wäre jede
künstlich errichtete Trennung vernichtend. . . 2
Diese wirtschaftlichen Gegebenheiten konstituierten das Gebiet zu einer
gewissen Einheit, wie die Denkschrift richtig ausführte. Sie wurde bei allen
Unterschieden zwischen den dicht besiedelten Gebieten in der Bergbau- und
Industriezone und den agrarischen Randgebieten durch eine relativ große
Fiomogenität der saarländischen Arbeiterbevölkerung noch ergänzt. Die
Einwanderung in die Bergbau- und Hüttengebiete an der mittleren Saar, ins
Sulzbach-, Fischbach- und untere Köllerbachtal erfolgte im 19. Jahrhundert
fast ausschließlich aus den umliegenden agrarischen Gegenden des Huns¬
rücks, der Mosel, der Eifel, der Pfalz und Lothringens, vorwiegend aber
aus den Gebieten, die in der Denkschrift als „Arbeiterzone“ bezeichnet wur¬
den3. Verwandtschaftliche Beziehungen, Anteile am elterlichen Erbe von
Haus und Äckern blieben den Arbeitern erhalten, oder ihre Erbschaft wurde
bei einer Übersiedlung in die Industriegebiete Grundlage zum Erwerb eines
1 Nur der nördliche Zipfel des Saargebietes war auf dem Wiener Kongreß als Fürsten¬
tum Lichtenberg mit der Hauptstadt St. Wendel an den Herzog von Sachsen-Coburg
gefallen. 1834 wurde das Landchen von Preußen gekauft und dem Regierungsbezirk
Trier eingegliedert. Dazu J. Beilot, Hundert Jahre politisches Leben an der Saar
unter preußischer Herrschaft (1815—1919), (Rheinisches Archiv Nr. 45), Bonn 1954,
S. 14 u. 18.
2 Das Saargebiet unter der Herrschaft des Waffenstillstandsabkommens und des Ver¬
trages von Versailles, als Weißbuch von der deutschen Regierung dem Reichstag vor¬
gelegt, Berlin 1921, S. 4, im folgenden zitiert als Deutsches Weißbuch; A. Tardieu,
La Paix, Paris 1921, S. 283.
3 In der französischen Literatur spricht man meist sehr allgemein von der preußischen
Überfremdung des Gebietes (so besonders J. Re vire, Perdrons-nous la Sarre, Paris
1929, S. 21 u. 25) und unterscheidet nicht zwischen der Einwanderung der Arbeiter,
die aus den umliegenden Gegenden erfolgte, und einer prozentual dazu sehr geringen
Einwanderung von preußischen Beamten und Akademikern. Bes. A. Marvaud, Le
Territoire de la Sarre, son évolution économique et sociale, Paris 1924, S. 104 f., nennt
Arbeiter und Beamte als preußische Einwanderer. Durch diese unklaren Vorstellun¬
gen und mangelnden Unterscheidungen beeinflußt, trug z. B. noch 1956 M. Mourin,
Le Saint-Siège et la Sarre, in Politique Etrangère 1956, S. 411, die These vor, daß
fast alle Protestanten an der Saar „émigrés ou descendants d’émigrés“ seien. Tatsäch¬
lich haben aber die evangelischen Gebiete an der Saar durch die Einwanderung der
katholischen Arbeiter eine konfessionelle Umstrukturierung im Sinne des prozentualen
Rückganges der evangelischen Bevölkerung erfahren. Zahlenangaben bei Bellot,
a. a. O., S. 116 f.
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