man in allen Wahlkämpfen die Religionsfeindlichkeit und den Atheismus
der Sozialdemokraten und der Freien Gewerkschaften nachzuweisen suchte7.
Deshalb blieb die scharfe weltanschauliche Trennungslinie zwischen Zentrum
und Sozialismus ein Grundzug des Parteilebens an der Saar, der für die
Entwicklung in mancher Hinsicht bedeutsam wurde.
Die Saarverhältnisse führten das Zentrum im übrigen rasch dazu, eine aus¬
gesprochen nationale Linie auszuarbeiten. Die Hoffnungen der Franzosen
auf die „Mußpreußen“8 an der Saar bezogen sich vor allem auf die katho¬
lische Bevölkerung. Die Gegensätze der Katholiken zum preußisch orien¬
tierten Nationalliberalismus und Unternehmertum wurden von den Fran¬
zosen ausgeweitet zu der Anschauung, daß die eingeborene Bevölkerung
katholisch, der lothringischen verwandt9 und kulturell dem Rheinland und
westlich-französischen Erinnerungen und Einflüssen aufgeschlossen sei10. Zu¬
dem hoffte man, die christlichen, gediegenen und fleißigen Saararbeiter
durch die Sozialmaßnahmen der französischen Grubenverwaltung und eine
liebenswürdige Behandlungsweise, die sich wohltuend von der ehemaligen
preußischen unterscheiden sollte, gewinnen zu können11. Daß die saarlän¬
dischen Katholiken zu Preußen vielfach ein distanziertes Verhältnis besaßen
und sich geistig und kulturell stärker dem Rheinland verbunden fühlten,
zeigte sich 1919 in der durchaus positiven Stellungnahme zur Entstehung
eines selbständigen Rheinlandes innerhalb der deutschen Republik12. Die
Franzosen versuchten aus ihrer Sicht der Dinge bereits während der Be¬
satzungszeit 1919 die Bevölkerung systematisch zu beeinflussen13. Büche¬
reien und Lesestuben wurden eingerichtet, die Fronleichnamsprozession, die
vorher an bestimmten Orten eingeengt gewesen war, wurde erlaubt14; die
katholischen Geistlichen wies man auf die Gefahr eines bolschewistischen
Deutschlands hin15 und betonte, daß die katholische Kirche nun Freiheiten
7 Z. B.: S.L.Z. Nr. 12 v. 13. 1. 1924: „Sind die freien Gewerkschaften religionsfeind¬
lich?“, S.L.Z. Nr. 83 v. 24. 3. 1928: „Die .christliche' Sozialdemokratie“; Volksstimme
Nr. 7 v. 9. 1. 1924: „Die katholische Geistlichkeit gegen den Bergarbeiterverband und
die übrigen freien Gewerkschaften“.
8 Diese Vorstellung kehrte bei manchen Franzosen bis 1934 wieder: z. B. J. Donna-
dieu, Un infructueux essai de collaboration franco-allemande en Sarre, in Revue
Politique et Parlementaire, Bd. CXLIV, S. 339—340; G. André-Fribourg, La
question de la Sarre, in Esprit International, Okt. 1934, S. 550.
9 Zwischen der lothringischen und der saarländischen Industriebevölkerung bestehen
große Unterschiede. Während die saarländische Bevölkerung bodenständig und homo¬
gen ist, wanderten in die lothringischen Industriegebiete viele Ausländer (Italiener,
Polen, Serben, Tschechen, Ungarn u. a.) ein. Übersicht dazu in Kloevekorn,
a. a. O., S. 347.
10 Vgl. dazu oben S. 21, Anm. 3.
11 Re vire, Perdrons-nous la Sarre?, S. 20 ff.
12 S.V.Z. Nr. 27 v. 4. 2. 1919 „Das Rheinland und die Nationalversammlung“; Nr. 29
v. 6. 2. 1919 „Eine rheinisch-westfälische Republik“; Nr. 30 v. 7. 2. 1919 „Ein freies,
deutsches Rheinland“; Nr. 45 v. 25. 2. 1919 „Die Goldkammer Preußens“.
13 Re vire, a. a. O., S. 29, faßte in folgendem Satz die Erfolge der Besatzungszeit, die
er im einzelnen aufzählte, zusammen: „En neuf mois notre propagande fut portée à
son apogée.“
14 Saar-Zeitung v. 1. 3. 1935 „Der Katholizismus und die Saarfrage von 1919—1923“
v. Monsignore Dechant Dr. Schlich.
15 Deutsches Weißbuch, S. 29 f.
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