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Die Lehre vom Urteil
wenn man, in Erinnerung an die »kataleptische Vorstellung« der Stoiker,
erklärt, es müsse natürlich eine gewisse Nötigung zu dem »Fürwahrhalten«
des Urteils vorliegen, und die Wahrheit eines Urteils bestehe eben darin,
daß es mich nötigt, es für wahr zu halten, ihm beizustimmen, es anzuerken¬
nen oder es zu glauben. Denn auch dies ist mit dem Wahrheitsbegriff nicht
gemeint und kann gar nicht damit gemeint sein. Ein Urteil kann wahr sein,
ohne daß es mich nötigt, es für wahr zu halten; und es kann mich nötigen,
es für wahr zu halten, auch wenn es tatsächlich nicht wahr ist. Die Nötigung,
die ein Urteil auf mein Fürwahrhalten ausübt, kann ein Grund meines
Glaubens an seine Wahrheit, nicht aber der Grund seiner Wahrheit, und noch
viel weniger seine Wahrheit selbst sein.
Will man den Vorwurf der eigenen Unfehlbarkeitserklärung vermeiden,
den man sich auch durch diese Umdeutung zuziehen würde, so kann man
die Beziehung des Urteils zu anderen Menschen herbeiziehen und das Ge¬
wicht dieser Beziehungen entweder durch die Quantität oder durch die
Qualität dieser anderen Menschen zu steigern suchen. Im ersten Fall kommt
man zu der Erklärung: die Behauptung, ein Urteil ist wahr, besage nichts
anderes als, es ist allgemeingültig, und das heiße, es wird von allen Men¬
schen für wahr gehalten. Nur unklares Denken jedoch kann meinen, die
Wahrheit eines Urteils bestehe darin, daß es von allen Menschen für wahr
gehalten werde. Denn ein Urteil kann wahr sein, ohne von allen Menschen
für wahr gehalten zu werden; und ein Urteil kann von allen Menschen für
wahr gehalten werden und doch nicht wahr sein. Freilich ist die Erfahrung,
daß alle Menschen, von denen man weiß, ein bestimmtes Urteil für wahr
halten, ein drängender Antrieb, nun auch selbst das Urteil für wahr zu
halten, aber sie garantiert doch die Wahrheit des Urteils in keiner Weise.
Indem das Urteil den Anspruch erhebt, wahr zu sein, macht es allerdings
auch den Anspruch, von allen Menschen für wahr gehalten zu werden. Aber
der zweite Anspruch gründet sich doch auf den ersten: weil das Urteil wahr
zu sein beansprucht, verlangt es dann auch den Glauben aller Menschen.
Wenn der erste Anspruch erfüllt ist, ist gewöhnlich der zweite noch lange
nicht erfüllt. Ja es gäbe wohl schließlich überhaupt keine wahren Urteile,
wenn sie erst auf die Anerkennung durch alle Menschen zu warten hätten.
Die Wahrheit eines Urteils ist nicht nur nicht identisch mit der Anerken¬
nung durch alle Menschen, sondern sie ist auch davon völlig unabhängig.
Wahre Urteile sind nur in dem Sinne notwendig allgemeingültig, daß sie
als wahr für alle Menschen, ja für alle denkenden Wesen gültig sein wollen,
nicht aber in dem Sinne, daß sie tatsächlich auch von allen denkenden Wesen