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Die Lehre vom Urteil
mit dem Wort »wahr« verbunden wird. Ein »wahres« Urteil in diesem
Sinne wäre ein Gedankengebilde, das nicht nur scheinbar, sondern in Wirk¬
lichkeit ein Urteil ist. Ein solches »wahres« Urteil könnte immer noch, un¬
beschadet seiner »Wahrheit«, wahr oder falsch in dem anderen, uns hier
allein beschäftigenden Sinne sein. Ebenso scheiden wir die Frage aus, ob
wir überhaupt ein Recht haben, von irgendeinem Urteil die W ahrheit in
diesem Sinne zu behaupten. Diese Rechtsfrage kann ja der Natur der Sache
nach erst dann mit Aussicht auf Erfolg dem Versuch einer Lösung unter¬
worfen werden, wenn man zuvor den Sinn der »Wahrheit« geklärt hat.
Die Sinn- oder Bedeutungsfrage muß überall der Rechtsfrage vorangehen.
Schließlich ist auch die Frage, wie oder auf welchem liege wir die Wahrheit
der Urteile überhaupt oder diejenige bestimmter einzelner Urteile feststellen
können, hier abzuscheiden, da auch die Lösung dieser Frage die Lösung der
Sinnfrage voraussetzt.
Die Frage, was wir eigentlich mit »wahr« meinen, wenn wir von einem
Urteil behaupten, es sei wahr, scheint keiner weiteren Antwort zu bedürfen.
Denn jeder Mensch, der die deutsche Sprache versteht, weiß ohne weiteres
und ohne die geringste Gefahr des Mißverständnisses sogleich ganz genau,
was damit gemeint ist. Aber die Bedeutung eines Wortes richtig verstehen,
ist etwas anderes, als die Bedeutung des Wortes richtig angeben. Es zeigt sich
in diesem wie in so vielen anderen Fällen in der Logik, daß in dem Moment,
wo nach der Bedeutung eines richtig und sicher verstandenen Ausdrucks
gefragt wird, eine Sinnverwirrung eintritt, die dann in den allermeisten
Fällen zu ganz falschen Antworten auf die Frage führt. Zudem wirken
gerade bei der Wahrheitsfrage so leicht erkenntnistheoretische Ansichten
störend und sinn verschiebend herein, so daß der Begriff der Wahrheit von
vornherein gegen alle mögliche Sinnverwirrung und Sinnverschiebung ge¬
sichert werden muß.
Die Erörterungen über den Wahrheitsbegriff sind außerdem dadurch sehr
getrübt worden, daß man nicht genügend scharf unterschied zwischen der
Wahrheit, dem Fürwahrgehaltenwerden, den Gründen der Wahrheit und
den Motiven des Fürwahrhaltens. Dies wird sich im folgenden deutlicher
zeigen.
1. Zunächst könnte man meinen, die Wahrheit sei eine bestimmte Art
von Urteil, derart, daß sich wahre Urteile durch ein besonderes Wesen von
falschen Urteilen unterschieden. Eine gewisse innere Wesensvortrefflich-
keit, eine innere Durchglühtheit des Urteils scheint mit seiner Wahrheit
gemeint zu sein. Die Behauptung, ein Urteil sei wahr, wäre dann ein Be-