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Die Lehre vom Urteil
nicht in sich widerspruchsvoll gewesen, wenn man vor dieser Untersuchung
auch denjenigen Gegenständen die Existenz zuschrieb, die man gerade nicht
wahrnahm und die vielleicht weder jetzt noch zu irgendeiner anderen Zeit
von irgendeinem Menschen wahrgenommen waren. Und man hatte doch
auch Fälle erlebt, in denen man irgendwelche Gegenstände, z. B. eigenartige
Flammengebilde beim Druck auf das Auge, sicher wahrnahm und ihre Wahr¬
nehmung auch konstatierte, und es trotzdem nicht widerspruchsvoll fand, zu
behaupten, daß diese Gegenstände nicht existieren, obgleich sie wahrgenom¬
men seien. Und sollte die Sprache wirklich so launisch sein, statt in den
Existenzialsätzen schlicht und recht vom »Wahrgenommenwerden« zu spre¬
chen, hartnäckig die schwer zu deutenden Wörter »existieren«, »realsein«
und »wirklichsein« zu gebrauchen, die doch etwas ganz anderes zu bezeichnen
scheinen? Orientiert man sich dann an den Sachverhalten, die durch die bei¬
den Urteile entworfen werden, so sieht man im einen Fall, beim Existenzial-
urteil, den einsamen Gegenstand, auf den es sich bezieht, und sein aus ihm
quellendes, aber auch bei ihm bleibendes Existieren; im anderen Falle, beim
Wahrnehmungsurteil, denselben Gegenstand umfaßt von dem Wahrnehmen
irgendeines seelischen Subjekts. Die beiden Urteile, als die Entwerfer so ver¬
schiedener Sachverhalte, müssen doch wohl sinnverschiedene Urteile sein.
Oder man versuche, mit beiden Urteilen Ununterschieden dieselbe Antwort
auf dieselben Fragen zu geben. Wird gefragt, ob die Peterskirche existiert,
so antworte man, »sie wird wahrgenornmen«. Vielleicht schon stutzig ge¬
macht durch die Inadäquatheit dieser Antwort, versuche man noch auf die
Frage, ob die Peterskirche wahrgenommen werde, die deplazierte Antwort
zu geben, daß sie existiere, und man wird erkennen, daß jede der Antworten
nur je einer der beiden Fragen angemessen ist, und daß also die beiden
Urteile notwendig bedeutungsverschieden sind.
Sogleich jedoch blitzt eine Möglichkeit auf, die Behauptung durch eine
kleine Umänderung zu retten. Nicht, daß der Gegenstand wirklich wahr¬
genommen werde, sondern nur, daß er wahrnehmbar sei, behaupte von ihm
das Existenzialurteil. Gewiß erledigt man hierdurch einige der Bedenken,
die sich gegen die vorangehende Bestimmung erhoben. Aber doch nicht alle.
Versteht man die Wahrnehmbarkeit in tatsächlichem Sinne, so bleibt be¬
stehen, daß es nicht in sich widersprechend ist, von einem Gegenstand die
Existenz zu behaupten und zugleich zu leugnen, daß er für Menschen wahr¬
nehmbar sei. Prinzipiell freilich wird wohl zu jeder Existenz die Wahrnehm¬
barkeit hinzugehören. Aber deshalb ist doch die Existenz mit der Wahrnehm¬
barkeit nicht identisch. Denn man erinnere sich, daß auch die eigentüm-