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Einleitung
und systematischen Kulturwissenschaften okkupiert. Schließlich ist die reli¬
giöse Welt von der Theologie besetzt.
Und im Gebiet der irrealen Gegenstände, zu dem ja auch die Gedanken
gehören, sind speziell die mathematischen Gebilde, also die Größen, die
Formen, die Lagen, sowie die Zahlen, die Mengen, Mannigfaltigkeiten und
die Ordnungen schon von der Reihe der mathematischen Wissenschaften
angeeignet.
Es bleibt also tatsächlich als einziges noch unbesetztes Gegenstandsgebiet
für die Niederlassung einer systematischen Wissenschaft nur die Welt der
Gedanken übrig. Ihr gegenüber entsteht aber sogleich die Frage, ob denn
eine systematische Wissenschaft von den Gedanken überhaupt möglich sei.
Sind nicht die Gedanken das Gebiet völlig freier Willkür, auf dem es für das
subjektive Belieben des denkenden Menschen keinerlei Schranken gibt? Und
kann man hier mehr erreichen als eine erfahrungsgemäße Übersicht über
die Spinn formen, in denen der Mensch im allgemeinen seine Gedanken aus¬
spinnt? Oder bildet die Welt der Gedanken, auch wenn sie vom Menschen
im freien Belieben erzeugt wird, dennoch eine Welt von Formen mit fester
Beschaffenheit, mit bestimmter Gesetzmäßigkeit des Aufbaues und der Ver¬
bindungen? Überlegen wir kurz, soweit es ohne vorangehende genauere
Kenntnis des Gebietes möglich ist, ob hinsichtlich der Gedankenwelt die
Bedingungen der Möglichkeit einer systematischen Wissenschaft erfüllt sind.
Es ist zunächst sicher, daß die Welt der Gedanken eine große Mannig¬
faltigkeit festbestimmter Arten von Gedankengebilden auf weist. Eine schnelle
Aufzählung einiger solcher Arten wird dies schon deutlich genug machen.
Daß es Fragen, Vermutungen, Annahmen und Hypothesen gibt; daß Mei¬
nungen, Ansichten, Urteile, Behauptungen, Thesen ebenso wie Erkenntnisse,
Einsichten und Wahrheiten bestimmte Gedankengebilde sind; daß in Schlüs¬
sen, Folgerungen, Beweisen und Begründungen Gedanken in bestimmten
Verbindungen auftreten, ist leicht festzustellen. Weiterhin finden wir in
Erzählungen, Berichten, Mitteilungen, Bescheinigungen, Bezeugungen, Be¬
kanntmachungen, ebenso in Darlegungen, Erörterungen, Abhandlungen,
Reden und Vorträgen Gedankengebilde und Gedankenzusammenhänge der
mannigfaltigsten Arten vor.
Eine andere Gruppe von Gedanken tritt uns in den Schätzungen, Wertun¬
gen, Gutachten, Würdigungen, Besprechungen, Kritiken und Zeugnissen
entgegen. Mit diesen nahe verwandt sind die Lobsprüche, Verteidigungen,
Tadel, Vorwürfe, Anklagen, die Verdächtigungen, Verwünschungen und
Verdammungen.