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I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
Diese Freiheit bekundet sich in dem eindrucksvollen Hervortreten
einer ganzen Reihe einander gleichberechtigter und auch relativ
gleichwertiger Systeme. Man denke nur, um bloß einen bestimmten
Zeitabschnitt ins Auge zu fassen, an Schellings Offenbarungsphilo¬
sophie, Hegels Philosophie des absoluten Geistes, Schopenhauers
Willensmetaphysik, an den Materialismus von Feuerbach usw., die
alle ungefähr zu gleicher Zeit ans Licht traten und Scharen von An¬
hängern gewannen. Mit der Aufteilung des dogmatisch gültigen
metaphysischen Systems in eine große Anzahl einzelner, unter¬
einander konkurrierender Systeme ging eine anarchistische Auf¬
teilung der Einheit des Geisteslebens Hand in Hand. Wenn sich in
der Metaphysik überhaupt das Wesen eines Zeitalters in seinen
Hauptzügen spiegelt, so muß sich in ihr auch sein Umschwung von
einer beherrschenden Einheit zu einer kaum noch zu übersehenden
und bis zur Verworrenheit gesteigerten Vielheit und Spannungs¬
fülle zum Ausdruck bringen. Das heißt: Die Metaphysik muß selber
der Zersetzung verfallen, was auch, worauf Dilthey besonders
hinweist, die Jahrzehnte zeigen, in denen er wirkte (etwa von
1880—1910).
Die wichtigste Folge aus dieser Anarchie der metaphysischen
Systeme war neben der Relativierung der metaphysischen Gesinnung
auch die Entstehung der Überzeugung, daß alle metaphysischen
Schöpfungen ausnahmslos von nur relativer und geschichtlich be¬
dingter Geltung sind. Sie können fernerhin nicht mehr als der allge¬
meingültige Niederschlag einer absoluten Vernunft und nicht mehr
als der unbedingt gültige Ausdruck einer übergeschichtlichen und
überpersönlichen Konstruktionsfähigkeit gelten. Der Grund für ihre
Aufstellung und das Maß ihres Ansehens sind vielmehr darin gegeben,
daß sie als das persönliche Bekenntnis bedeutender und mit ihren
Gedanken weit um sich greifender Menschen aufzufassen sind. Die
Metaphysik wird auf diese Weise als eine persönliche Gemüts¬
angelegenheit anerkannt. Ihr Wahrheitswert ist nicht mit den Sätzen
der naturwissenschaftlichen Erkenntnis vergleichbar. Er liegt be¬
gründet in dem Maß der Subjektivität derjenigen intellektuellen und
moralischen Kraft, mit der diese persönliche metaphysische Welt¬
auslegung gebildet, in die Sprache der Begriffe umgesetzt und zur
Anerkennung und Geltung gebracht wird. Kein metaphysisches
System spricht eine ewige Wahrheit aus, so sehr es auch eine solche
Höhe und eine unbedingte Zuständigkeit für sich in Anspruch nehmen
und von sich behaupten mag.