3. Haupttypen der Einwände
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ist sie aus dieser Verbindung gelöst und als Transzendentallogik und
Kritizismus zu einer selbständigen Wissenschaft erhoben worden.
Aber auch in der Form einer psychologischen Untersuchung der Er¬
kenntnis zeigt sie die Abhängigkeit der Erkenntnis von einer ganzen
Reihe von äußeren und inneren Bedingungen, von rationalen Vor¬
aussetzungen und von einem empirischen Empfindungsstoff. So
gelangt die neue Erkenntnistheorie zu einer strengen Bestimmung
der Grenzen der menschlichen Erkenntnis, zur Einsicht in deren
Eingeschränktheit und zu einer daraus hervorgehenden Warnung vor
aller Grenzüberschreitung, die ein Kennzeichen der unwissenschaft¬
lichen Metaphysik ist.-
Der Geist der Aufklärung, der sich in der Form positivistischer
Selbstvergewisserung des Menschen nach zwei Seiten hin betätigt
und bewährt, nämlich nach der Seite der Erkenntnis der Wirklich¬
keit und nach der Seite der Theorie der Erkenntnis, führt nun zu
einem für ihn schließlich erfolgreichen Vernichtungskampf gegen die
Metaphysik. Ihre Stellung sowohl im System der Wissenschaften als
auch in der allgemeinen Schätzung der Menschen erfährt die denkbar
einschneidendste Veränderung, die im Laufe der Zeit beinahe den
Charakter der Mißachtung annimmt. Sie gilt nicht mehr als die
„Königin“ der Wissenschaft, sie verliert ihren alten Primat im Reiche
des Geistes. Und statt einer den Wissenschaften a priori und sach¬
lich vorangehenden und ihnen überlegenen Erkenntnisform wird sie
methodisch und inhaltlich von den positiven Wissenschaften ab¬
hängig, hat sie lediglich deren Arbeit für dieZwecke einer Gesamter¬
kenntnis der Wirklichkeit zu ergänzen und zum Abschluß zu bringen.
Nun läge es nahe, um dieser Kritik zu begegnen, darauf hinzu¬
weisen, daß die Neuzeit gleichfalls nicht arm an metaphysischen
Systemen ist. Mit der Möglichkeit einer solchen Entgegnung be¬
schäftigt sich Dilthey; er glaubt, sie dadurch zu widerlegen, daß
er auf die freie und ungebundene Mannigfaltigkeit, ja Über¬
fülle metaphysischer Systembildungen aufmerksam macht, die das
Eine autoritative metaphysische System der Kirche, nämlich den
Thomismus, verdrängt haben. Für die Entstehung jener Mannig¬
faltigkeit ist bezeichnenderweise nicht mehr die Orientierung an ein
von außen gegebenes Dogma oder an eine mit allen Mysterien um¬
gebene, trotzdem nur äußere Autorität maßgebend. Sie beruht viel¬
mehr auf der Freiheit der Vernunft und auf der logischen
Autonomie und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Denkers.