Full text: Grundlegung der Dialektik

2. Kants Kritik der Metaphysik 
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stehen sie den Verlauf der geschichtlichen Entwicklung noch als 
die logisch eindeutige und mathematisch belegbare Entfaltung einer 
im wesentlichen begrifflich angelegten und begrifflich arbeitenden 
Grundkraft? Sind sie restlos davon überzeugt, was sie als Leib- 
nizianer sein müßten, daß die wahren Gesetze der Wirklichkeit den 
Charakter von vérités de raison tragen? Gewiß, sie sind in vielen 
Zügen eingesponnen in eine Auffassung, die den Aufbau der Welt 
unter dem Symbol einer mathematischen Reihe und einer klaren 
Gliederung der einzelnen Stufen begreift. Gewiß, auch ihnen gilt 
der Satz vom zureichenden Grunde als das ausschlaggebende Er¬ 
kenntnisprinzip und als der logische Ausdruck der objektiven Welt¬ 
gesetzlichkeit. 
Aber indem sie nun versuchen, die leibnizischen Erklärungs¬ 
prinzipien auf die Erkenntnis der geschichtlich-künstlerischen Welt 
zu übertragen, stoßen sie immerfort auf unbehebbare Schwierig¬ 
keiten, wenn sie dieselben auch fast nie mit ausdrücklichen Worten 
zugestehen. Arbeitet aber Herder nicht mit einem Entwicklungs¬ 
gedanken, der die Hüllen und Schranken der mathematischen Ein¬ 
kleidung, auch wenn diese die Form einer dynamischen Theorie 
trägt, abzustreifen beginnt, und mit der Idee einer inneren Spon¬ 
taneität verbunden ist, die in dem System von Leibniz trotz der Be¬ 
fürwortung des Aktivitätsgedankens keinen Raum hat? Mir scheint, 
daß Herders Ideen über die Geschichte und über den Fortschritt 
des Menschengeschlechts auf einer Auffassung vom Wesen der Ent¬ 
wicklung, die von dem leibnizischen Entwicklungsbegriff unver¬ 
kennbar abweicht, beruhen. Denn was nach meiner Meinung dem 
leibnizischen Entwicklungsgedanken fehlt, das ist die Idee wahrhaft 
schöpferischer Freiheit und Autonomie. Ich weiß, daß manche Züge 
in der Philosophie von Leibniz die Ansicht nahelegen, er gehöre zu 
den Vertretern einer solchen Ideenlehre. Dieser Auslegung stehen 
aber zwei Vorbehalte im Wege. Kann von einer wahrhaft schöp¬ 
ferischen und wahrhaft autonomen Entwicklung in vollem Sinne 
die Rede sein, wenn diese Entwicklung auf der einen Seite mathe¬ 
matisch-rationalistisch durch den Verstand und auf der anderen 
Seite theonomisch und theozentrisch durch Gott determiniert ist? 
Und dann Lessing. Welche Motive wirken im Hintergründe 
seiner ablehnenden Haltung gegen den französischen Klassizismus 
und seines bahnbrechenden Eintretens für Shakespeare? Der eng¬ 
lische Dichter vertritt, wie Lessing deutlich erkennt und scharf 
betont, eine Menschenauffassung und entwirft ein Bild von der
	        
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