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Dialektik und Philosophie
und ihre systembildende Kraft, besitzt sie zugleich den unverkenn¬
baren, nicht zu verwechselnden, sie vor allem von der Religion ab¬
hebenden Ausweis ihrer Eigenart, besitzt sie das Kriterium, um ihr
Wesen kenntlich und geltend zu machen und um sich in ihrer Be¬
sonderheit und als Besonderheit neben den übrigen Kulturkreisen
theoretischer und praktischer Art durchzusetzen.
Diese Erkenntnis ist der Philosophie durch Platon gewonnen
worden. Durch diese Erkenntnis ist die Philosophie durch Platon
ihrer Eigenart gewiß geworden. Das aber bedeutet, daß durch diese
Erkenntnis die Philosophie überhaupt erst geschaffen wurde. Unter
der schöpferischen Führung des Gesichtspunktes der Dialektik
wurde von diesem tiefsten und umfassendsten Denker der abend¬
ländischen Philosophie der Begriff der Philosophie entdeckt und
zugleich gesichert. Seitdem ist die Philosophie auf die Dialektik
gegründet, und ihr System ist nur möglich geworden und möglich
geblieben als Form und Gestalt der Dialektik. Das hat niemand
klarer durchschaut als Kant. Deshalb richtet er sich in seinem
Kampf gegen die alte dogmatische Philosophie gegen nichts anderes
als gegen die Dialektik; deshalb ist seine Kritik der Metaphysik eine
Kritik der Dialektik geworden. Da jedoch keine wahre Philosophie,
also auch keine echte Kritik für sich der Dialektik als Grund¬
legung und Richtmaß, als Voraussetzung und Prinzip entraten kann,
so beruht Kants eigenartige Kritik der Dialektik selber auf einer
Dialektik, so ist dieser großartigste Kritiker der Dialektik selber
Dialektiker und damit Platoniker.
Nun wäre es ebenso reizvoll wie angebracht, einmal Kant als
Dialektiker herauszustellen und den Dialektiker Kant darzustellen,
noch über das Maß dessen hinaus, was ich in meinem Buche ,,Wie
ist kritische Philosophie überhaupt möglich?“ versucht habe. Trotz¬
dem muß ich mir an dieser Stelle versagen, auf diese Aufgabe
einzugehen. Nur das eine darf hier betont werden, daß die Auf¬
deckung der großartigen Dialektik, auf der die kritische Philosophie
beruht, und die geradezu diejenige Methode ist, auf der der Kritizis¬
mus als Kritizismus, als System, als Gedankentat, als philosophische
und kulturgeschichtliche Leistung nach Ansatz wie Ausführung,
nach Idee wie Lehre, als Standpunkt und als Ereignis sich gründet,
daß diese Aufdeckung, so möchte ich sagen, mit dem haltlosen
Mißverständnis aufräumen wird, nach dem Kant der Anhänger und
Sachwalter einer in der Hauptsache rationalistisch-mechanistischen
Wirklichkeitsauffassung und Lebensanschauung gewesen und seine