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Dialektik und Leben
Formen, die aus den tatsächlichen Verhältnissen, Entwicklungen,
politischen, gesellschaftlichen, rechtlichen, wirtschaftlichen Fak¬
toren sich ergeben? Aber diese Verhältnisse und Faktoren —sind
sie selber weiter nichts als Tatsachen? Steckt und wirkt in ihnen
nicht die „Idee“, das transzendente Sollen? Und strahlen von
diesem Sollen nicht Forderungen und Gesetze aus, deren Wesen und
Sinn gerade in ihrer Spannung gegenüber den Realitäten und den
empirisch-realen Gesetzen bestehen? Keine geschichtliche Gegeben¬
heit ohne eine für sie transzendente Aufgegebenheit, und mag sie
auf die Bewahrung und Mehrung ihrer historischen Macht noch so
eifersüchtig bedacht sein. Jede geschichtliche Gegebenheit, sei es
ein Staat oder eine Rechtsform, eine Wirtschaftsorganisation oder
ein Industrieunternehmen, eine Einrichtung des gesellschaftlichen
Zusammenlebens oder eine bestimmte Gestalt der Kunst oder der
Wissenschaft, eine Kirche oder nur ein Freundschaftsbund, entstammt
aus transzendenten Absichten, die sich in der Realität der be¬
treffenden Gegebenheit niemals rein bekunden und verwirklichen.
Sie weist auf transzendente Ziele hin, die als ewige Forderungen sie
nicht bloß lenken, sondern ihre geschichtliche Realität unter Um¬
ständen sogar zugrunde richten! Was würde aus dem Staat, wenn
er ganz „gerecht“, was aus der Wirtschaft, wenn sie für alle Be¬
teiligten gleich ökonomisch förderlich, was aus der Kirche, wenn
sie restlos von dem Prinzip der Liebe erfüllt wäre? Hat das Leben
durch seine Beziehung auf die dialektische Norm bloß seinen
Förderer, nicht auch seinen Feind und Hasser in sich?
Keine wissenschaftliche Erkenntnis, vielmehr allein der religiöse
Glaube vermag in einer, wohl aller begrifflichen Eindeutigkeit ent¬
hobenen Gewißheit einen Ausgleich zwischen der dämonischen Ur¬
kraft des Lebens und seiner ihm sittlich notwendigen Selbstüber¬
windung zu lehren. Nur erwägt die Feindschaft gegen jene Dämonie.
Nur er gewährt dem Leben sein tragisches Hinauswachsen über sich
selber und damit seine Befreiung von sich selber. So sehr natura¬
listische oder biologistische Auffassungen des Lebens seine Selbst¬
herrlichkeit und Eigenmacht unterstreichen und preisen mögen,
man braucht nur an Friedrich Nietzsches Jubellied auf die unab-
meßbare Urmacht des Lebens, z. B. im „Zarathustra“ zu denken:
an der Instanz, daß wir das Leben werten oder nach einer Lebens¬
wertung streben, ringt das Leben bereits kraft einer es selber rück¬
sichtslos überbietenden Idee sehnsüchtig über sich selbst hinaus,
wird seine biologisch-naturalistische Gesetzlichkeit durchbrochen,