Full text: Grundlegung der Dialektik

A. Dialektik und Leben. 
Ganz unvermittelt und aus sehr dringlichen und sehr ernsten 
Gründen regt sich in dem Menschen das Verlangen, neben der 
ersehnten Antwort auf die allgemeine Frage nach seiner Stellung 
innerhalb der Gesamtwirklichkeit auch noch einen möglichst objek¬ 
tiven Wertmesser für das besondere Wesen und Wollen gerade 
seiner Zeit, gerade desjenigen Abschnittes, in dem er steht, zu er¬ 
halten. Er will nicht nur überhaupt wissen, „was es bedeute, Mensch 
zu sein“, sondern er trachtet ebensosehr danach, die eigentümliche 
Bedeutung seiner Epoche für die konkrete Unmittelbarkeit der 
gesellschaftlich-geschichtlichen Zweckwelt zu erfahren. Er hat ge¬ 
lernt, in welchem umfassenden Sinne er ein Kind der Geschichte 
ist und wie unzerreißbar ihn die Gewebe ihrer Zusammenhänge 
umspannen. Er weiß, daß die Fäden der historischen Abläufe für 
sein Geschick von nicht geringerer Wichtigkeit sind als die All¬ 
gemeingesetze der Natur. Diese Erkenntnis ist ein Erfolg der histo¬ 
rischen Aufklärung, der mitten in das menschliche Leben eingreift. 
Neben den älteren, naturwissenschaftlich begründeten Determinis¬ 
mus ist ein jüngerer, aus den geschichtlichen Wissenschaften ab¬ 
geleiteter, ist ein historischer Determinismus getreten. 
Aber das ist nun das ebensowohl Beachtenswerte als auch das 
Seltsame und Aufregende: Der Mensch beruhigt sich nicht bei 
dieser Erkenntnis seiner Gebundenheit durch die Geschichte und in 
der Geschichte. Geschieht es, um dem mit dieser Erkenntnis ge¬ 
gebenen Fatalismus zu entgehen, in dem wir eine Gefährdung, eine 
Schwächung unseres Selbst, einen Verrat gegen unsere geistige 
Freiheit wittern? Zu dem Ganzen jener Gründe, die uns zu dem 
Einblick in den Wert unserer Zeit und in die Macht ihrer Traditionen 
veranlassen, gehören nicht bloß intellektuelle und theoretische An¬ 
triebe und Belange, es gehören dazu auch kulturpolitische und 
kulturerzieherische, zu tiefst aber wohl sittliche Motive, die aus 
dem geheimnisvollen Gefühl einer Verantwortlichkeit und Selbst¬ 
behauptung gegenüber der Geschichte aufsteigen. Wir mögen uns 
mit dem Bewußtsein unserer Abhängigkeit von den historischen
	        
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