Full text: Grundlegung der Dialektik

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Einleitung 
nis der geschichtlichen Welt noch gar nicht ausgeschöpft sind. Wenn 
Kant den „transzendentalen Schein“ als eine oft irreführende, aber 
immer charakteristische Beigabe metaphysischer Spekulationen 
tadelt, so ließe sich fragen, ob hier nicht noch eine positive Aus¬ 
wertung jener „Kritik des Scheins“ zu unternehmen wäre. Denn 
da dieser Schein einmal da ist, so gilt es von dieser quaestio facti 
auf die quaestio juris zurückzugehen, um den positiven Sinn, den 
der „Schein“ besitzt, aufzudecken, also den Schein als objektive 
Kategorie ins Auge zu fassen. 
Die unaufhebbare Dialektik des geschichtlichen Lebens spiegelt 
sich vielleicht in keinem Gebilde unmittelbarer und deutlicher als in 
diesem Gebilde des Scheins, dessen Bezeichnung als Schein aller¬ 
dings abwegig und ungünstig ist. Denn sie verleitet dazu, in jenem 
Gebilde eine nichtssagende oder jedenfalls entbehrliche und abstreif¬ 
bare Wesenlosigkeit zu erblicken. Eine Dialektik des Scheins kann, 
allerdings unter Aufnahme und Weiterführung der kantischen 
Kritik, zu anderen Ergebnissen gelangen, als die kantische Behand¬ 
lung dieses Problems zeitigte. Doch ist es gar nicht ausgeschlossen, 
daß auch im Hintergründe dieser kantischen Kritik des Scheins 
Voraussetzungen und Tendenzen liegen, die bereits Kant selber zu 
einer bejahendenWertungdesPhänomens des Scheines geführt hätten. 
Und sollte sich mit der Erreichung einer positiven Würdigung 
dieses Phänomens der Rationalismus nicht selber wandeln, wenn er 
weniger zu einer ablehnenden, als zu einer auf adäquates Verständnis 
hindrängenden Erkenntnis des Scheins abzielt? Der Schein ist ein 
irrationales Phänomen; auch von seinem Begriff sind irrationalisti¬ 
sche Züge natürlich nicht fernzuhalten. Taucht das Denken aber 
selber in die Welt dieses Irrationalismus hinein, durchtränkt es sich 
mit den dialektischen Strömungen des geschichtlichen Lebens, dann 
wird sein logisches Gefüge sich zu einem Dialektizismus abwandeln, 
und es wird dadurch eine Synthese zwischen der irrationalistisch- 
intuitivistischen und der rationalistisch-begrifflichen Bewußtseins¬ 
haltung und Erkenntnisweise erreicht sein. Denn es gehört zu den 
unleugbaren dialektischen Eigentümlichkeiten derjenigen Erkennt¬ 
nis, die auf das geschichtlich-gesellschaftliche Leben bezogen ist, daß 
in ihr rationalistische Bestandteile und Funktionsweisen innerlichst 
mit solchen von irrationalistischer, intuitiver, begrifflich nicht weiter 
auflösbarer und begrifflich nicht weiter ausdrückbarer Natur ver¬ 
bunden sind. Und zwar verbunden in einer durchaus antinomisch- 
paradoxalen Formverflechtung.
	        
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