2. Die dialektische Geschichtsphilosophie
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Gerade weil die Entwicklung des modernen Geisteslebens uns
so tief in die Bande des Relativismus und des Historismus verstrickt
hat, und weil dadurch die bedrohlichste Gefährdung unseres Glaubens
an die Geltung absoluter Werte eingetreten ist, weil das historische
Bewußtsein in so weitem Umfange über das metaphysische Bewußt¬
sein Herr geworden zu sein scheint, erhebt sich mit so dringenderer
Mahnung die Forderung nach einer metaphysischen Neubegründung
unseres geistigen und werktäglichen Daseins, nach einer Neube¬
gründung aus dem Quell einer absoluten Überzeugung und einer
nicht im Positivismus, sondern in der Metaphysik verankerten und
aus ihr sich nährenden Bewußtseinshaltung und Weltbewertung.
Nicht der Rationalismus, wie so oft tadelnd und anklagend be¬
hauptet wird, sondern jener psychologistische Relativismus ist es,
in dem die von Nietzsche so scharf gekennzeichnete und so heftig
bekämpfte Dekadenzstimmung des ausgehenden neunzehnten Jahr¬
hunderts zum Ausdruck gelangt. Ebensowenig ist dem Rationalis¬
mus die erste Schuld an der verhängnisvollen Relativierung aller
Werte beizumessen. Mit ihm kann sich eine absolutistisch-meta¬
physische Geisteshaltung durchaus verbinden, wie die Vergangen¬
heit deutlich zeigt. Denn hat er im siebzehnten und achtzehnten
Jahrhundert nicht zur Entstehung einer solchen Geisteshaltung und
Lebensgesinnung beigetragen, die sich gleichermaßen über alle Ge¬
biete der Kultur ausbreitete und das Feld der Wissenschaft und des
Rechtes, des Staates und der Politik ebenso umfaßte wie dasjenige
der Kunst und der Religion? Eine innere Sicherung gegen das Ab¬
gleiten in den Relativismus besaß jener Rationalismus schon in
seiner Verbrüderung mit den mathematischen Naturwissenschaften
und in der Strenge seiner, diesem Wissenschaftsgebiet entlehnten
absolutistischen Methodik. Um den Rationalismus und Intellektualis¬
mus zum Schrittmacher eines, die Kulturbestände auflösenden Rela¬
tivismus werden zu lassen, mußte sich ihm jene historische Auf¬
fassungsweise beigesellen, deren eine Quelle in den neuen Geistes¬
wissenschaften zu suchen ist.
Unbestreitbar vollzog sich unter dem Einfluß dieser Wissen¬
schaften eine Abwandlung des älteren Weltbildes nach der Richtung
einer historistisch-relativistischen Auffassung und Beurteilung aller
Erscheinungen. Wurde von diesem Wandel etwa auch die Substanz
unserer Kultur, d. h. das Ethos unserer Kulturgesinnung ergriffen,
die im unaufhaltsamen Verlaufe dieser Entwicklung ihrer Krisis,
nämlich der Entstehung des weltanschaulichen und nihilistisch