Full text: Grundlegung der Dialektik

2. Die dialektische Geschichtsphilosophie 
37 
Gerade weil die Entwicklung des modernen Geisteslebens uns 
so tief in die Bande des Relativismus und des Historismus verstrickt 
hat, und weil dadurch die bedrohlichste Gefährdung unseres Glaubens 
an die Geltung absoluter Werte eingetreten ist, weil das historische 
Bewußtsein in so weitem Umfange über das metaphysische Bewußt¬ 
sein Herr geworden zu sein scheint, erhebt sich mit so dringenderer 
Mahnung die Forderung nach einer metaphysischen Neubegründung 
unseres geistigen und werktäglichen Daseins, nach einer Neube¬ 
gründung aus dem Quell einer absoluten Überzeugung und einer 
nicht im Positivismus, sondern in der Metaphysik verankerten und 
aus ihr sich nährenden Bewußtseinshaltung und Weltbewertung. 
Nicht der Rationalismus, wie so oft tadelnd und anklagend be¬ 
hauptet wird, sondern jener psychologistische Relativismus ist es, 
in dem die von Nietzsche so scharf gekennzeichnete und so heftig 
bekämpfte Dekadenzstimmung des ausgehenden neunzehnten Jahr¬ 
hunderts zum Ausdruck gelangt. Ebensowenig ist dem Rationalis¬ 
mus die erste Schuld an der verhängnisvollen Relativierung aller 
Werte beizumessen. Mit ihm kann sich eine absolutistisch-meta¬ 
physische Geisteshaltung durchaus verbinden, wie die Vergangen¬ 
heit deutlich zeigt. Denn hat er im siebzehnten und achtzehnten 
Jahrhundert nicht zur Entstehung einer solchen Geisteshaltung und 
Lebensgesinnung beigetragen, die sich gleichermaßen über alle Ge¬ 
biete der Kultur ausbreitete und das Feld der Wissenschaft und des 
Rechtes, des Staates und der Politik ebenso umfaßte wie dasjenige 
der Kunst und der Religion? Eine innere Sicherung gegen das Ab¬ 
gleiten in den Relativismus besaß jener Rationalismus schon in 
seiner Verbrüderung mit den mathematischen Naturwissenschaften 
und in der Strenge seiner, diesem Wissenschaftsgebiet entlehnten 
absolutistischen Methodik. Um den Rationalismus und Intellektualis¬ 
mus zum Schrittmacher eines, die Kulturbestände auflösenden Rela¬ 
tivismus werden zu lassen, mußte sich ihm jene historische Auf¬ 
fassungsweise beigesellen, deren eine Quelle in den neuen Geistes¬ 
wissenschaften zu suchen ist. 
Unbestreitbar vollzog sich unter dem Einfluß dieser Wissen¬ 
schaften eine Abwandlung des älteren Weltbildes nach der Richtung 
einer historistisch-relativistischen Auffassung und Beurteilung aller 
Erscheinungen. Wurde von diesem Wandel etwa auch die Substanz 
unserer Kultur, d. h. das Ethos unserer Kulturgesinnung ergriffen, 
die im unaufhaltsamen Verlaufe dieser Entwicklung ihrer Krisis, 
nämlich der Entstehung des weltanschaulichen und nihilistisch
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.