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Einleitung
liehe, d. h. seine geistige Heimat darstellen, und daß die Gesetze
und Mächte der geschichtlichen Wirklichkeit von nicht geringerem
Gewichte für das Sein und Werden des Menschen sind als die Gesetze
der Naturwirklichkeit. Wie aber diese Erkenntnis aus den histo¬
rischen Wissenschaften hervorgegangen ist, so hat sie auch umge¬
kehrt eine immer mehr sich vertiefende Beachtung und Pflege dieser
Wissenschaften gezeitigt. Man darf sagen, daß wir auch von Seiten
der Wissenschaft her und durch ihre Vermittlung in eine inten¬
sivere Vertrautheit mit der geschichtlichen Welt gelangt sind, als
frühere Zeiten und Geschlechter aufzuweisen haben. Es gibt wohl kein
deutlicheres Anzeichen und keinen stärkeren Beleg für diese enge
Verschlungenheiten des Menschen der Gegenwart mit den Bezügen
der Geschichte als der Umstand, daß uns die geschichtliche Welt
im großen und im kleinen zum „Problem“ geworden ist. Unsere
tiefsten Nöte und Sorgen beziehen sich auf die Bewältigung dieses
Problems, so z. B. auf die Frage nach dem Recht der Tradition,
auf die Frage nach der Anhänglichkeit gegenüber der geschicht¬
lichen Vergangenheit, auf die Frage nach der Geltung der geschicht¬
lichen Einrichtungen, nach dem Einfluß, den sie berechtigtermaßen
auf uns ausüben dürfen, nach ihrem Gehalt an Sittlichkeit usw.
Es gehört zu den schwierigsten und ernstesten Problemen der Ge¬
schichte, daß wir in eine Überlegung darüber eingetreten sind, ob
und in welchem Umfange wir ihr verpflichtet sind und ihrer Macht
uns hingeben sollen, oder ob jene Autorität, die sie in sich trägt,
und deren Anerkennung sie fordert, nicht in einem bedrohlichen
Wettstreit mit jener Freiheit und Autonomie steht, die wir als sitt¬
liche Persönlichkeit in uns tragen, und die zu den unaufgebbaren
Bedingungen unserer geistigen Existenz ebensogut gehört wie unsere
zweifellose Verbundenheit mit den Wirkungszusammenhängen der
Geschichte.
Dieses gehalt- und eindrucksvolle Hervortreten gerade der
historischen Wissenschaften bietet nun die Voraussetzung und die
Veranlassung für die außerordentlich aussichtsreiche und deshalb
unbedingt gebotene Verbindung zwischen ihnen und der Philosophie.
Ein Vorgang, dem ähnlich und vergleichbar, der im siebzehnten
und achtzehnten Jahrhundert die fruchtbare Beziehung zwischen
der Mathematik und den mathematischen Naturwissenschaften auf
der einen Seite und einer mathematisch und naturwissenschaftlich
begründeten und entsprechend orientierten Philosophie auf der an¬
deren entstehen ließ. Was nun die historischen Wissenschaften,