2. Die Wendung zur Dialektik]
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Bedeutung besaßen. Weder waren sie in dieser in tatsächlicher An¬
wendung, noch ließ sich eine Annäherung der Geisteswissenschaften
an die Naturwissenschaften als Aufgabe und Ziel ins Auge fassen,
ohne den Sinn und die Eigenart der Geisteswissenschaften zu zer¬
stören. Die Begründungen von so bedeutenden Denkern wie Wilhelm
Dilthey und Christoph Sigwart, die für das Recht und die Selbständig¬
keit der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften
und damit zugleich gegen die Übertragung naturwissenschaftlicher
Methoden auf die Geisteswissenschaften ihre Stimme erhoben, dürf¬
ten als hinlängliche Mahnungen dienen.
1. Abgesehen von einigen speziell in erkenntnistheoretischer Hin¬
sicht verhältnismäßig untergeordneten Untersuchungen, wie es die von
Droysen in seinem „Grundriß der Historik“ (1868) und v. Sybel
„Über die Gesetze des historischen Wissens“ (1864) etwa sind, darf
Wilhelm Dilthey das Verdienst zugesprochen werden, die Einsicht
in die grundsätzliche Selbständigkeit der Geisteswissenschaften ver¬
bunden zu haben mit der Einsicht in die Notwendigkeit einer auto¬
nomen Grundlegung dieser Wissenschaftsgruppe. Ganz gleich wie
immer die Art seiner mehr beabsichtigten und programmatisch ver¬
kündeten als systematisch durchgeführten Theorie der historischen
Erkenntnis, die er bekanntlich als Kritik der historischen Ver¬
nunft bezeichnete, beurteilt werden mag — seine ungemeine Ein¬
fühlungsfähigkeit in die Problematik und dialektische Relativität
des geschichtlichen Lebens ließ in ihm eine, ihn auch oft persönlich
beunruhigende Ahnung der Aporetik der Erkenntnis erwachen. Er
rang zeitlebens um die Überwindung derjenigen Antinomik, die aus
der tiefen Gegensätzlichkeit zwischen der abstrakten Formalität
und formalen Abstraktheit des Begriffs auf der einen Seite und der
individuellen Unmittelbarkeit und bewegten Konkretheit des ge¬
schichtlichen Lebens auf der anderen sich ergibt. Er glaubte, daß alle
als absolut sich gebärdende Systematik von dem Strom des Lebens
immer wieder in Frage gestellt und verrelativiert wird, und daß
dadurch der ganze Prozeß des historischen Erkennens in eine unauf¬
haltsame Dialektik sich verstrickt.
Weder hat Dilthey die logisch-konstitutive Geltung des Begriffs
der Dialektik erkannt, da er ihn immer in einem etwas psychologi-
stisch-relativistischen Sinne auslegte, noch liegen bei ihm Ansätze
zu einer Theorie der Dialektik als Methode vor. Aber indem er die
dialektische Relativität der historischen — und nächst ihr auch der
philosophischen — Erkenntnis so stark hervorhob, gehört er zu den