372 VI. Die Dialektik der Metaphysik
und ihrer Dialektik auf der einen Seite und der Religion auf der
anderen.
Wo gibt es in der Metaphysik jene beseligende Gewißheit? Kann
sie auch nur eine einzige Lösung darbieten, die es hinsichtlich dieser
Unbedingtheit mit den Antworten der Religion aufzunehmen ver¬
mag? Die einzelnen Metaphysiker allerdings leben und weben in
der Überzeugung der Endgültigkeit ihrer Antworten. Diese Über¬
zeugung ist aber eine Selbsttäuschung, deren gutes Recht in ihrer
Notwendigkeit besteht. Denn wie der Geist des Metaphysikers auf
das Absolute eingestellt ist, so zeigt auch die Struktur seines Geistes
einen absoluten Charakter. Relativisten sind keine Metaphysiker.
Sie sind es schon nicht aus subjektiven und psychologischen Gründen.
Wer sich an das Unternehmen einer Metaphysik begibt, muß den
apriorischen Glauben in sich tragen, eine Erkenntnis des Absoluten
auf irgendeinem Wege erreichen zu können. Dieser Glaube ist mehr
als ein „Wahn“, er ist eine unvermeidliche objektive Bedingung
für jeden Metaphysiker.
Ganz anders aber ist es um die Metaphysik bestellt. Ihr Begriff
setzt nicht sowohl die Endgültigkeit der Lösungen als die Ewigkeit
derjenigen Fragen voraus, die der Problematik des Absoluten gelten.
Sie ist ja nichts anderes als die zur Absolutheit erhobene und auf
das Absolute gerichtete Methode der Dialektik. Der einzelne Meta¬
physiker gelangt zu einem Abschluß, wie jeder endliche Geist und
jedes endliche Streben zu einem Abschluß gelangen. Die Metaphysik
selber, d. h. die Metaphysik verstanden aus ihrer Idee heraus, weiß
nichts von einem solchen Abschluß. Unvermeidlich und unwider¬
leglich schiebt sich in den von ihr aufgestellten Begriff des Ab¬
soluten eine Dialektik, ein Prozeß des Niefertigwerdens ein. Dieser
Umstand ist durch viele Gründe bedingt. Er ist bedingt durch die me¬
taphysische Lebensangst, die in jedem Menschen waltet; er ist bedingt
durch die im Verhältnis zur Religion doch nur dünne und abstrakte,
formale und intellektuelle, auf den zerbrechlichen Stützen von „Be¬
weisen“ ruhende Antwort, die wir von der Metaphysik erhalten; er ist
bedingt durch den relativen Rationalismus, der in jeder Metaphysik
selbst bei Heranziehung irgendeines Gefühlsstandpunktes und Irratio¬
nalismus enthalten ist; er ist nicht zuletzt durch die vielseitigeVerfloch-
tenheit der Metaphysik in empirische Kulturlagen und Kulturrichtun¬
gen bedingt,z. B.durchihreVerflochtenheitin bestimmte wissenschaft¬
liche Tendenzen und Interessen und durch die Abhängigkeit der Meta¬
physik von dieser Fülle der empirischen Kultur und ihrem Wandel.