2. Die Dialektik der Geschichte
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bzw. ihre Beziehungen zueinander klarzustellen. Somit zielt diese Auf¬
gabe genauer hin auf eineLogikderhistori sehen Dialektik und
auf die Entwicklung eines Systems der historischen Pro¬
blematik und Antinomik. Die Lösung dieser Aufgabe würde
die kritische Grundlegung der Geisteswissenschaften darbieten.
Würde! Klingt aus diesem Wort nicht der Ton des Zweifels
heraus? Ist es nämlich nicht auffällig, daß von allen möglichen
Standpunkten aus der Versuch einer Grundlegung der Geistes¬
wissenschaften in Angriff genommen worden ist, aber kaum von
dem des Kantianismus und Neukantianismus? Und widerspricht
es nicht dem Wesen des Kantischen Kritizismus, eine solche Grund¬
legung zu liefern? Ist er seinem ganzen Geist und seiner ganzen
Verfassung nach nicht allzusehr an der Mathematik und an der
mathematischen Naturwissenschaft (der theoretischen Physik) orien¬
tiert, von deren — der Grundform nach — statischem Charakter aus
sehr viel auch in die Methode des Kritizismus eingedrungen ist, so
daß er seiner Struktur nach zu hart, zu formal-aprioristisch ist,
um ein angemessenes Verständnis für die dialektische Dynamik der
Geisteswissenschaften zu besitzen? Würde er diese Dynamik
nicht allzusehr auf das Prokrustesbett seines formalen Apriorismus
zwingen und ihr damit ihr Leben vernichten? Ist es möglich, unter
Zugrundelegung der Transzendentalphilosophie eine „Logik der
historischen Wahrheit“ zu geben?
Es ist ersichtlich, daß wir damit vor eine Aufgabe gestellt sind,
deren Behandlung sich der Neukantianismus nicht wird entschlagen
dürfen, falls er nicht vor einer der dringlichsten Forderungen, die
der theoretischen Philosophie, die der modernen Wissenschaftslehre
gesetzt sind, kapitulieren will. Kurz gefaßt würde das Thema so
lauten: Kritizismus und Geisteswissenschaft. Der Stimmen sind
nicht wenige, die der Erkenntnistheorie Kants bzw. derjenigen des
Neukantianismus diese Fähigkeit absprechen, d. h. die sie nur für
die kritische Begründung der Mathematik und der mathematischen
Naturwissenschaft als ausreichend erachten. Die Antwort auf das
soeben genannte Problem soll uns in einem späteren Teil unseres
Zusammenhanges beschäftigen. Nur das darf schon jetzt und noch
einmal hervorgehoben werden, daß der Sinn der bezeichneten Auf¬
gabe nicht durch die Analyse bloß des allgemeinen Antinomien¬
gedankens und der allgemeinen Dialektik getroffen werden würde.
Sondern es gilt, die erkenntnistheoretische Untersuchung in der
Hauptsache und in erster Linie hineinzuführen in die Struktur und
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