302 V. Hauptformen der Dialektik
lektik in gewisser Weise, diese Irrationalität und Lebensunruhe
mit ein.
Damit ist ohne Zweifel für die Wissenschaft eine ernste Gefahr
verbunden. Denn wohin geriete die prinzipiell aufrechtzuerhaltende
Begriffsbestimmtheit und Begriffsklarheit der Erkenntnis, wenn
unser Forschen sich restlos der romantischen All- und Über¬
beweglichkeit anvertrauen würde? Wir brauchen um der Er¬
kenntnis willen die Begriffsbestimmtheiten; wir brauchen die Be-
zogenheit auf die Systematik des Begriffs, des begrifflichen Urteils,
des begrifflichen Schlusses. Ist das aber eingesehen und anerkannt,
dann ist damit die Forderung unabweisbar, streng zu unter¬
scheiden zwischen der Dialektik als einem erlebnis¬
gesättigten Spiel des Geistes und der Dialektik als
einer festen, disziplinierten wissenschaftlichen Unter-
suchungs- und Betrachtungsweise.
2. Die Dialektik der Geschichte:
Dialektik als Kategorie der Geschichtswissenschaft.
Der geschichtsphilosophische, auch der geschichtslogische Wert
der romantischen Dialektik darf dabei in keiner Weise unter¬
schätzt werden. Denn immer wird sich die Vernachlässigung der
Instanz des Lebens auch bei den Zwecken der Erkenntnis rächen.
Trotzdem genügen alle Hinweise auf die Unzulänglichkeit des
üblichen formalen und mathematisierenden Rationalismus eben¬
sowenig wie alle Berufungen auf die Unentbehrlichkeit des Lebens,
um den Rationalismus überhaupt zu verabschieden oder auszu¬
schalten. Romantik in der Wissenschaft, einseitige Hervorhebung
des Lebensmomentes und einer ausschließlich oder vorherrschend
am Leben orientierten und aus ihm genährten Dialektik treiben zu
einem sachlich haltlosen, gedanklich nichtssagenden Relativismus
und im engsten Anschluß daran zu einem gedankenlosen theoreti¬
schen Nihilismus. Das ist die Gefahr, von der jede „Lebensphilo¬
sophie“ bedroht ist bzw. zu der sie unvermeidlich führt. Und um
diese Gefahr zu beschwören, bedarf es des entschiedenen Wider¬
standes durch den Geist des wissenschaftlichen Rationalismus.
Damit ist nun nicht behauptet, daß das jener oben erwähnte formale
Rationalismus sein muß. Denn dieser ist nicht identisch mit dem
Geist wissenschaftlicher Haltung und Methode überhaupt. Er ent¬