Full text: Grundlegung der Dialektik

1. Die Dialektik des Erlebens und das Erleben der Dialektik 301 
romantischer Einstellung nicht freie Beschäftigung mit der Proble¬ 
matik der geschichtlichen Welt hervorrufen mußte. Aus seelischer 
Ergriffenheit formte sich eine, ihre subjektiven Wurzeln offen¬ 
barende subjektive Gestalt der Dialektik. Vielleicht ist das vom 
entwicklungsgeschichtlichen Standpunkt aus überhaupt die erste, 
die sozusagen primitive Form, in der die Dialektik auftritt. 
Überwunden oder unterbrochen wurde der Prozeß des dialek¬ 
tischen Erlebens sowohl in Griechenland als in der Neuzeit durch 
das Auftreten und die Ausbildung des aufklärerischen Rationalis¬ 
mus, der, indem er vorherrschend an der Mathematik und an der 
mathematischen Naturwissenschaft orientiert war, auch für die Er¬ 
fassung des geschichtlichen Lebens lediglich naturgesetzlich ge¬ 
artete Begriffe zur Verfügung stellte. In dem Umstand, daß jener 
Rationalismus gerade der dialektischen Denkweise so gar keine 
Geltung einräumen kann und in seiner ganzen Struktur dieser 
Denkweise so fernsteht, ist sicherlich auch sein Versagen gegenüber 
den eigentümlichen Forderungen des historischen Erkennens be¬ 
gründet. Um diesen Forderungen gerecht zu werden, ist ein 
beweglicherer, dynamischerer Geist vonnöten, als er jenem Ratio¬ 
nalismus eignet. Hier schuf eine Besserung oder mindestens eine 
Änderung erst der Geist der Spekulation und der Romantik, in 
deren Kreisen gerade die Dialektik die regste und wirkungsvollste Er¬ 
neuerung und Vertretung fand. Und es unterliegt wohl kaum einem 
Zweifel, daß das Interesse für die Dialektik ebenso wie ihre metho¬ 
dische Verwendung einen nicht unbeträchtlichen Schuß romantisch¬ 
spekulativer Gesinnung einschließen. Denn während die einfache 
und eindeutige Methodik des Rationalismus entweder an Hand des 
logischen Prinzips von Grund und Folge oder an Hand des mög¬ 
lichst quantitativ und zahlenmäßig bestimmten Grundsatzes von 
Ursache und Wirkung verläuft, ermangelt die dialektische Me¬ 
thode sowohl nach außen als nach innen dieses übersichtlichen, ein¬ 
sinnig geregelten Aufbaus: Es ist, als ob eine geheime Triebkraft 
den Zusammenhang der Begriffe hervorbrächte; und das Strömen 
dieser Kraft scheint jegliches Starrwerden dieses Zusammenhanges 
und auch jedes einzelnen Teiles zu verbieten oder zu vereiteln. Wie 
es zu den charakteristischen Forderungen und Leistungen der Ro¬ 
mantik gehört, daß durch sie der Irrationalität des Lebens wieder 
ein weiter Spielraum zugestanden wird im Gegensatz zu der 
Festigkeit und Härte des Begriffes und des rationalen Gesetzes, 
so fließt auch in die romantische Methode, und das ist die Dia-
	        
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