1. Die Dialektik des Erlebens und das Erleben der Dialektik 299
in erster Linie der rein logische Zusammenhang, nicht die theoretische
und intellektuelle Seite der Kultur. Wie es sich für ihn vielmehr
um die Auffassung des geschichtlichen Lebens einschließlich der
Philosophie in der durchwellten und erregten Breite, Tiefe und Ver¬
wicklung seines Gehaltes handelt, so gab er sich dieser bewegten
Verwebung und Verwobenheit der Kulturerscheinungen mit einer
wunderbaren Willfährigkeit und Aufnahmefähigkeit hin. In voll¬
kommener Plastik stand ihr Bild vor seinem Auge, und mit künst¬
lerischer Wirkungskraft vermochte er das Geschaute zu schildern.
Aber indem er so ganz in seinen Gestalten lebte, indem er sich mit
ihrem Blut durchtränkte und dem dann von ihm entworfenen Ge¬
mälde diese Züge des Blutes und der innigsten Beteiligung mitgab,
ward ihm die Betrachtung mehr als eine bloß logische Zergliederung;
das Interesse an ihrer begrifflichen Erfassung trat zurück gemeinsam
mit dem Interesse an der erkenntnistheoretischen und methodo¬
logischen Herausarbeitung der begrifflichen Voraussetzungen, auf
denen doch alle wissenschaftliche Erfassung der Geschichte beruht.
Er fühlte sich in seine Gestalten so unmittelbar nachschaffend,
so lebendig, in einem so hohen Grade menschlichen Mitempfindens
und Nachverstehens ein, daß dadurch die etwas zurückgezogene Hal¬
tung des Erkennenden und dessen, der über seine Erkenntnis mit
methodischer Bestimmtheit Auskunft zu geben sucht, doch ein
wenig beeinträchtigt wurde. Er war gewissermaßen in einem zu
hohem Maße mitschwingender Kulturhistoriker und Kulturpsycho¬
loge, um in einem gleich hohen Maße Methodologe und rein kritisch
gerichteter Erkenntnistheoretiker der Geisteswissenschaften zu sein.
Sein oft großartig tiefsinniger, durch persönlichste Anteilnahme ver¬
feinerter Subjektivismus äußert sich in abschließender Form eben
darin, daß die Dialektik der Geschichte und die der Geschichts¬
wissenschaft bei ihm noch in der Zone des Erlebens gebannt blieb,
daß wir bei ihm von dem Erleben der Dialektik und von der
Dialektik des Erlebens sprechen können. Mit anderen Worten:
Die Dialektik ist hier noch nicht herausgearbeitet zur Bedeutung
eines fundamentalen, kategorialen Prinzips. Sie ist noch nicht zu
logischer Objektivität gestaltet.
Dieser Subjektivismus der Dialektik besitzt nun außerdem
seine allgemeine theoretische Grundlage in dem geisteswissen¬
schaftlichen und geistesgeschichtlichen Psychologismus und Histo¬
rismus der 70er, 80er, 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Sie selber aber, die historistische und psychologische Untersuchungs¬