V. Hauptformen der Dialektik.
Die ganze Geschichte des abendländischen Geisteslebens, beson¬
ders diejenige der abendländischen Philosophie, wird begleitet
und zum guten Teil getragen von einer lebhaften, bisweilen leiden¬
schaftlichen Anteilnahme gerade an der Dialektik. Ist dieser Um¬
stand bereits an sich beachtenswert, so klärt sich seine Bedeutung
noch weiter durch die leicht belegbare Feststellung, daß es gerade
die Blütezeiten und die Glanzleistungen der philosophischen Arbeit
sind, in denen jene Anteilnahme mit entschiedener Auswirkung sich
bekundet. Das spricht für die enge Beziehung zwischen der Philo¬
sophie, ihrer systematischen und ihrer historischen Entwicklung
auf der einen Seite, und dem dialektischen Prinzip und Verfahren
auf der anderen. Gewisse Stufender philosophischen Erkenntnis sind
geradezu gekennzeichnet durch die eigentümliche Gestalt und Anwen-
dungder in ihnen gebrauchten Dialektik. Bestimmten Stufen der Ent¬
wicklung der Philosophie entsprechen bestimmteTypen der Dialektik.
Deshalb wird auch unsere Übersicht über die hauptsächlichen
Denkrichtungen und Gruppen, die die Wendung zur Dialektik, sei
es als Programm verkündet und hervorgerufen, sei es in einigem
Umfange bereits durchgeführt haben, bestimmte Hauptformen der
antinomischen Gedankenart hervorheben. Diese Typen der Dialek¬
tik wollen wir nun unabhängig von ihren historischen Ursprüngen und
Beziehungen rein in ihrer grundsätzlichen Struktur ins Auge fassen.
Es handelt sich also um eine — allerdings engumgrenzte — Charak¬
terologie und Typologie der Dialektik und damit um
einen Beitrag zur allgemeinen Charakterologie und Typo¬
logie des geschichtlichen Geistes überhaupt und seiner
Betätigungsweise in der philosophischen Systematik
1. Die Dialektik des Erlebens und das Erleben der Dialektik.
Bei Wilhelm Dilthey, seiner Schule und seinen Anhängern,
wächst das Interesse für die Dialektik heraus aus der intensiven Be¬
schäftigung mit der Problematik der geschichtlichen Welt und aus