3. Der Urgrund des dialektischen Problems
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dankens, daß dem Leben der Primat gegenüber aller rationalen For¬
mung und aller Begrifflichkeit gebühre. Davon war bereits mehrfach
die Rede. Eine zweite, nicht minder große und nicht weniger auf¬
fallende Einseitigkeit der Lebensphilosophie ergibt sich aus ihrer
zu einfachen, zu monistischen, fast möchte ich sagen, zu harmoni-
stischen Fassung und Auffassung des Lebensbegriffes. Die Dialektik
des Lebens ruht nicht bloß in der unzertrennlichen Bezogenheit
des Lebens auf die polare Festigkeit der Form — sie zeigt sich nicht
weniger stark auch in einem schweren Antagonismus, in einem ganz
seltsamen Widerspruch, in dem das Leben zu sich selber steht. Die
Lebensphilosophie pflegt das Leben als unendliche Fülle, als all¬
gewaltigen Strom, als unwiderstehlichen Schwung, als allmächtige
Kraft anzusehen und, wie ein Hinweis auf Nietzsche oder auf
Bergson lehrt, es deshalb mit entsprechendem Nachdruck zu
preisen. Aber diese Kraft ist doch nur die eine Seite des Lebens.
Das Leben im absoluten Sinne als unbrechbare und schöpferische
Kraft ist nicht der volle Gehalt des Lebens. Das klingt mehr als
paradox. Aber diese Formulierung der Paradoxie trägt ihre Be¬
rechtigung auf Grund der realen Paradoxie des Lebens. Denn
das Leben wäre kein Leben, wäre nicht denkbar und möglich,
wenn ihm sein Zuendegehen, wenn ihm seine Vergänglichkeit nicht
innerlichst und ganz notwendig mitgegeben und unverlierbar ein¬
gewoben wäre.
Wie ist diese Behauptung gemeint, und wie ist sie zu begründen?
Bekanntlich veranlaßt die Gewißheit des empirischen, des physio¬
logischen und psychologischen Abschlusses des empirischen Daseins
durch den äußeren Tod zu zahlreichen rechtlichen, sozialen und
moralischen Vorkehrungen. Daß wir unsern Haushalt bestellen, für
unsere Kinder sorgen, Bestimmungen über unsere Hinterlassenschaft
treffen, das alles sind eigentlich doch eigenartige und paradoxe
Maßnahmen angesichts der Überzeugung, daß dem Leben Absolut¬
heit und Allmacht eigene. Sind alle Testamente, ihr juristischer
Charakter hier natürlich beiseite gelassen, etwa Überlistungen des
Lebens oder wenigstens Ansätze und Versuche zur Überlistung des
Lebens, und zwar der Vergänglichkeit des Lebens? Ist aber mit der
Inangriffnahme einer solchen Überlistung nicht bereits die Ver¬
gänglichkeit des Lebens zugegeben, und zwar als durchaus positiver,
dem Leben selber zugehöriger Bestandteil des Lebens selber?
Testamente sind Sicherungen, sind Versicherungen des Lebens
gegenüber dem Mutwillen des Lebens, gegenüber irgendwelchen