1. Die Dialektik der philosophischen Lösungen
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Spannung genauere Beachtung schenken. An dieser Stelle kann
es für unseren Zweck zunächst genügen, auf diese Spannung hin¬
gewiesen zu haben. Ihre Hervorhebung ist nicht eigentlich neu.
Aber sie ist für unsere Absicht keineswegs nebensächlich. Denn
diese Absicht besteht in der möglichst umfassenden systema¬
tischen Aufdeckung der tiefen, unaufhebbaren, durch¬
aus systematischen, konstruktiv überaus fruchtbaren
Dialektik der Philosophie, und zwar sowohl der theore¬
tischen als der praktischen Philosophie, sowie jeder auf
der theoretischen und der praktischen Philosophie auf¬
gebauten Weltanschauung. Die Dialektik ist für die Phi¬
losophie schlechthin unentbehrlich. Sie istfürsieschlecht¬
hin konstitutiv und regulativ; sie ist ihre Hauptmethode
und ihr vorzüglichstes Konstruktionsprinzäp, das alle
ihre Gebiete durchwaltet, ja trägt, das in ihren Begrün¬
dungen, ihren Grundlagen, ihrem Aufbau und in ihren
Lösungen von maßgebender Wirksamkeit ist. Dialektisch
aber sind und bleiben auch die Folgerungen, die sich aus der Grund¬
dialektik der Philosophie ergeben. Und die tiefe Antinomik und
Aporetik dieser Folgerungen darf nicht zugunsten eines schnell¬
bereiten Harmonismus und Monismus verkannt oder verdeckt werden.
Diese objektive Dialektik der Lösungen bekundet sich auch in
der dialektischen Vielheit von Interpretationen der Philosophie und
der einzelnen philosophischen Systeme, in erster Linie der Haupt¬
systeme. Der Umstand, daß über den Sinn z. B. des Platonismus oder
des Kritizismus alles eher als eine auch annähernde Einheit der Auf¬
fassungen erzielt bzw. erzielbar ist, erweckt doch die Vermutung,
der Tatbestand zwinge von sich aus zu einer Mehrheit von Ansichten,
und zwar darum, weil in ihm bereits selber eine Mehrheit von Ein¬
stellungen und Voraussetzungen, von rationalen und von irrationalen
Antrieben und Gesetzlichkeiten, von Gedankenformen und Gedan¬
kentendenzen und eine Mannigfaltigkeit verschiedenartiger, verschie¬
denwertiger und verschiedendeutiger Strukturfaktoren angelegt und
wirksam sind. Eine Aufgabe von hohem Reiz, der Dialektik der
Interpretationen nachzugehen. Die Dialektik der Lösung kehrt hier
in einer etwas vertiefteren und komplizierteren Gestalt wieder, und
zwar insofern, als jede Interpretation gleichsam die Wiederholung
einer Lösung, die Lösung einer Lösung darstellt. Sie gilt zunächst
nicht dem ursprünglichen Problem eines Systems, sondern zunächst
der Behandlung bzw. Lösung des Ursprungsproblems durch jenes
Liebert, Dialektik. 16