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III. Der dialektische Idealismus
hebt uns des Dilemmas, zwischen einer substantialistischen und
einer phänomenologischen Auffassung wählen zu müssen. Es hieße,
ein irreführendes Licht über unsere Auffassung verbreiten, wollten
wir für eine substantialistische Dialektik eintreten, also die Dialektik
ontologisieren. Alsdann wäre sofort die Frage aufgeworfen bzw.
aufzuwerfen, wie das Verhältnis der Dialektik als Substanz der
Dinge zu den tatsächlichen dialektischen Prozessen innerhalb der
Welt der Gesellschaft und der Geschichte sich stellt, eine leere Frage
von unserem Standpunkt aus, eine Frage, die auf einen — unhalt¬
baren — metaphysischen Dualismus sich stützt, über den wir
ebenso hinaus sind wie über seinen — nicht minder haltlosen —
Gegenspieler, den metaphysischen Monismus (vgl. oben S. 179 ff).
Schließlich weicht unsere Ansicht vom Wesen der Dialektik von
derjenigen der „klassischen“ Dialektiker auch in ethisch-welt¬
anschaulicher Beziehung ab. Diesen Klassikern handelte es sich stets
um eine das Gemüt und seine Unruhe befriedigende Apologie: In
der Harmonie des Absoluten und in der Absolutheit der Harmonie
sind alle Übel, Konflikte, Unstimmigkeiten beseitigt. Ganz tief, ganz
innerlich ist der „klassischen“ Auffassung der Dialektik ein recht
starker christlicher und christianisierender Zug beigemischt. Es
fehlt ihr von Grund aus die Anerkennung des tragischen Gehaltes
der Dialektik; sie nimmt dieser Tragik der Dialektik ihre Autonomie.