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III. Der dialektische Idealismus
Voraussetzung ruhen, daß sie selber „wahr“, daß sie selber gültig ist.
Damit aber wäre die Idee der Wahrheit a priori zugestanden, und zwar
an der entscheidenden Stelle. Zweitens: Wenn „alle Wahrheiten“
falsch sind, dann gibt es keinen Unterschied zwischen wahr und
falsch, und die Kennzeichnung und Bewertung des Systems der
Erkenntnis als falsch oder als wahr wird gegenstandslos. Ferner
drittens: Wie oder wo läßt sich das Recht für die Behauptung be¬
gründen, daß die ganze Erkenntnis „falsch“ sei? Gibt es für diese
Behauptung keine Begründung, dann erweist sie sich als leere Redens¬
art und als wertlose Gedankenspielerei. Ist eine solche Begründung
beizubringen, dann gelten eben der Gesichtspunkt für diese Begrün¬
dung und der Standpunkt, von dem aus sie zu unternehmen wäre,
a priori als „wahr“.
14. Das Numenose der Dialektik.
Mit diesen Bemerkungen, die sich in erkenntniskritischer Hin¬
sicht natürlich noch ganz beträchtlich ausbauen ließen, soll nicht
bloß die allgemeine Widersinnigkeit und Haltlosigkeit des Skeptizis¬
mus angedeutet werden, sie wollen vielmehr zugleich zum Ausdruck
bringen, daß der dialektische Idealismus im besonderen
mit dem Skeptizismus nicht das mindeste zu tun hat. Kein
Zug in ihm, keine Bedingung seines Wesens, kein Element seiner
Gestalt, seiner Struktur, seines Geltungswertes, seiner Wirksamkeit,
seiner Eigenart als Geisteshaltung und Erkenntnisprinzip, als Welt¬
anschauung und Lebensweisung ist im Sinne des Skeptizismus auf¬
zufassen und zu verwerten. Die Kategorien: Antinomie, Paradoxie,
Dialektik und ähnliche Kategorien, die alle im Zusammenhang der
vorliegenden Arbeit als konstitutive Begriffssynthesen verstanden
und gebraucht werden, sind mit keiner Silbe dem Gedankenapparat
der Lehre des Skeptizismus zuzurechnen. Durch ihre Aufstellung,
durch ihre Anerkennung und durch ihren Gebrauch soll die sichere,
die objektive Geltung des Erkenntnissystems keine Bedrohung, keine
Beanstandung, keine Einschränkung erleiden.
Wir haben davon gesprochen, daß jede Form der Erkenntnis von
einer unbehebbaren Dialektik erfüllt ist, und zwar um so mehr, je
höher sie auf der Stufenleiter der Erkenntnis steht, je mehr sie sich
mit anderen Worten der Weise der Metaphysik nähert, daß unsere
Weltanschauung dialektisch-antinomischer Natur ist und bleibt, daß
es philosophisch unmöglich ist, ein System der Ethik zu entwickeln,