Full text: Grundlegung der Dialektik

13. Die kritische Geisteshaltung 
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hinabreicht, ist unseres Wesens Erbteil. Diese Antinomie und Dialek¬ 
tik kennzeichnet unseres Wesens und Wirkens Schicksal. Nur mit 
dem Leben selber findet auch sie ihr Ende. Sollen wir dieses Ende 
herbeiwünschen und für sein Nahen tätig sein? Die „Aufhebung“ 
dieser Dialektik war das Ziel des älteren harmonistischen Idealis¬ 
mus unserer klassischen Zeit. Aber sie bedeutet zugleich die Auf¬ 
hebung des Lebens, die Selbstpreisgabe des Lebens, sie bedeutet 
eine metaphysische Fahnenflucht, den Abfall des Lebens von sich 
selber, seine Untreue gegen sich selber. Ganz wesentlich und ganz 
wurzelhaft ruht das Leben in seiner Dialektik, nährt und bereichert 
es sich durch sie, braucht es sie, sucht es sie, versucht es, sie für sich 
zu erhalten. Ein undialektisches Leben ist ein wertloser, undifferen¬ 
zierter, primitiv-naturalistischer Vorzustand oder eine, dem Kreis 
und dem Gehalt schöpferischer Aufgaben und schöpferischer Leistun¬ 
gen sich entziehende bzw. entzogene, nur eingebildete Erlösung und 
Seligkeit. Wie bereits gesagt, fordert das Leben aus seiner Freiheit 
heraus und wegen seiner Freiheit seine Dialektik. Es erkämpft sie 
sich wieder, sobald die Dialektik durch den Dogmatismus, z. B. 
durch denjenigen der Religion oder den des traditionellen Rationalis¬ 
mus, eingeengt oder beseitigt wird. 
Aber diese Durchtränktheit des modernen Lebens mit Kritik 
und Dialektik und diese grundsätzliche und heroische Bewahrung 
seines Willens zur Freiheit bringt nun eben das Urphänomender 
metaphysischen Lebensangst zur Auslösung. Oft, sehr oft 
gelangt diese Auslösung nicht über die Schwelle des Bewußtseins, 
tritt sie nicht offen und unmittelbar in die Wirkungsabläufe des 
Tages ein. Doch ist sie tief im Innern da. Sie ist da als ein Element 
des Lebens, wie wir es jetzt leben, dazu geführt durch hundert 
innere und äußere Entwicklungsvorgänge, und in ihm festgehalten 
durch hundert innere und äußere Umstände. Es ist kein Zufall, 
daß in der Wissenschaft und in der Literatur unserer Zeit so häufig 
dasThemader Lebensangst anklingt, daß so häufig auf diesendunklen 
Wirkungshintergrund unseres Daseins aufmerksam gemacht wird, 
daß so viele Eigentümlichkeiten in unserer gedanklichen wie in 
unserer praktischen Betätigung auf ihn zurückgeführt und aus 
ihm heraus verstanden werden. Das geschieht nicht bloß durch 
die Psychoanalyse Freuds und seiner Schule. Diese Unruhe durch¬ 
zittert die seelische Haltung Strindbergs in mehr als einem Ent¬ 
wicklungsstadium, und ihren Niederschlag findet diese unge¬ 
heure Angststimmung in mehr als einem seiner Dramen und 
Liebert, Dialektik. 15
	        
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