6. Die Dialektik im System der Philosophie
177
von ihnen selbst als Grunddisziplin sich auf die andere beruft und
stützt, daß sie ohne die andere nicht auskommen, ja, ohne die andere
sogar ihren eigenen Begriff nicht zu erfassen und nicht zu bestimmen
vermag. Denn wenn die Erkenntnistheorie als die Wissenschaft der
Wissenschaft, als dieTheorie der Erkenntnis definiert wird, so ist in dem
Begriff der Wissenschaft bereits die Beziehung auf ein ,,Sein“ als die
reale Grundlage, als die vorwissenschaftlich seiende Wirklichkeit vor¬
ausgesetzt, auf die die Arbeit der Erkenntnis erst hinzielt. Dieses „Hin¬
zielen“, dieses Bewältigen oder Bewältigenwollen eines „Seins“ hat
aber doch nur dann einen Sinn, wenn dieses „Sein“ als seiend irgend¬
wie angenommen, irgendwie gesetzt gilt, selbst wenn es nur als X gilt.
Dann gilt eben dieses X als seiend. Aber das gleiche gilt auch um¬
gekehrt. Wie kann denn eine solche metaphysische Setzung des
Seins als gültig behauptet werden, wenn nicht auf Grund der logischen
Gültigkeit der Formen der Erkenntnis, wenn also nicht die Priorität
des metaphysischen Seins im Prinzip verbunden wird mit der Apriori-
tät der Erkenntnis dieses Seins? Auch die ontologische Unbedingt¬
heit des Seins, die gewißlich vorauszusetzen, die gewißlich mit aller
ontologischen Strenge anzunehmen ist, ist doch von einer noch so
dogmatischen Ontologie nur vorausgesetzt, nur angenommen im
Rahmen einer Theorie: Denn die Onto-logie ist doch Logik des
Seins. Sie hat doch das „Sein“ nicht als solches. Das heißt: Die
Metaphysik trägt in sich eine Erkenntnistheorie, beruht auf einer
solchen und umgekehrt. Zwischen diesen beiden Grunddiszi¬
plinen herrscht das Verhältnis dialektischer Korrelation.
Deshalb ist auch die Frage und der an sie sich anschließende
Streit im Grunde gegenstandslos, ob die Systematik der Philosophie
mit der Erkenntnistheorie oder ob sie mit der Metaphysik zu be¬
ginnen habe, und welche der beiden philosophischen Grundwissen¬
schaften nun auch wirklich uneingeschränkten Anspruch auf die
Geltung einer solchen Wissenschaft besitzt. Dieser Streit ist ange¬
sichts der merkwürdigen Opposition gegen die „ewige“ Beschäftigung
der Kantianer und Neukantianer mit der Erkenntnistheorie lebendig
geworden. Gewisse Richtungen in der Philosophie der Gegenwart
glaubten und glauben noch, gegen diese „Einseitigkeit“ die Not¬
wendigkeit einer Erneuerung der Ontologie und einer Wendung zur
Metaphysik empfehlen zu müssen. Wollen wir nicht in einen vor¬
philosophischen Dogmatismus zurücksinken, der naiv, der ganz
durchtränkt von dem überheblichen, weil absolutistischen Selbst¬
bewußtsein des alten Rationalismus, also unkritisch ein „Sein“ als
Liebert, Dialektik. 12