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II. Von der Pflicht zur Metaphysik
absoluten Idee aus zu erteilen. Begibt sich in einer solchen
metaphysischen Antwort nicht ein innerlich befreiender
Durchbruch durch die Bindungen, in die wir uns unserem
empirischen Sein nach eingespannt glauben oder einge¬
spannt wissen? Erleben wir uns nicht jetzt als Geschöpfe einer
höheren Macht, die uns in ihrer allmächtigen Hut hält und uns
dadurch über alle äußeren und inneren empirischen Abhängigkeiten
hinaushebt? Wir vertauschen das Wissen um die empirische Gesetz¬
lichkeit gegen die glaubensvolle Deutung, daß wir neben den irdi¬
schen Zusammenhängen noch ewigen Wirkungseinheiten beigesellt
sind, die uns nicht bloß binden, die unsere Freiheit nicht nur be¬
engen, so sehr sie uns in unserem Bestände auch sichern, sondern
die uns die Wege zur Erfüllung unserer „Bestimmung“ erschließen.
Ist es wirklich unzutreffend und zuviel gesagt, wenn der Meta¬
physik eine solche Erlösungsfunktion zugeschrieben und
nachgerühmt wird? Verwischen wir durch die Vertretung einer
solchen Auffassung etwa allzu unbedenklich die Grenze zwischen
Philosophie und Religion, und zwar zuungunsten derersteren? Wir
werden über dieses Verhältnis sofort noch einige Worte zu sagen
haben. Doch vorerst liegt uns am Herzen, jenem soeben ange¬
deuteten Bedenken durch den naheliegenden Hinweis darauf zu
begegnen, daß die klassischen Systeme der Metaphysik in
der Tat eine solche Erlösungsaufgabe im Auge gehabt und
sowohl ihrer systematischen Grundintention als der Idee
ihrer Schöpfer nach zu verwirklichen bestrebt waren.
Nicht bloß in seiner neuplatonischen Gestalt, die möglicherweise
als eine gewisse Entartung des ursprünglichen Platonismus beurteilt
werden könnte, sondern schon in seiner echten und ursprünglichen
Form zeigt diese großartigste Metaphysik der griechischen Kultur
deutlich wahrnehmbare Tendenzen und Züge, die der Welterlösung
dienen. In der Ideenlehre Platos bekunden sich ganz offenbar die
Absicht einer solchen Aufgabe und der Wunsch nach einer solchen
Leistung, die sie, wie die Geschichte des Platonismus lehrt, auch
sonst zu wiederholten Malen in der Entwicklung des Abendlandes
betätigt hat. Mit gutem Recht ist von vielen Seiten jene Meta¬
physik als eine Vorstufe des Christentums und seiner eschatologischen
Zielrichtung aufgefaßt worden. Die Scholastik des Mittelalters und
die Theologie und Philosophie der Renaissance und des Humanismus
haben neben Mose und den Propheten des alten Bundes auch
Sokrates und Platon als Vorläufer Christi, als Christen vor der Zeit