Full text: Grundlegung der Dialektik

3. Das moralische Motiv 
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anderen hinüber, greift seine Autonomie an und sucht diese nieder¬ 
zuzwingen, so sehr auch jedes Motiv auf die Wahrung seiner Auto¬ 
nomie bedacht sein mag. Fragt nicht alles Wissen und alles Er¬ 
kennen nach einem Rechtsgrund, der nicht bloß aus der Wurzel 
und dem Umkreis des Theoretischen stammt? Sucht es nicht ganz 
ursprünglich und unmittelbar seine Bewährung dadurch zu erreichen, 
daß es sich auf die Idee des Guten zurückführen und durch diese 
Idee verbürgen läßt? Gleichsam als fließe ihm erst aus dieser Ver¬ 
wurzelung seine eigentliche und volle Wahrheit zu, die ohne jene 
Verbürgung im Guten nichts als eine leere Form, nichts als ein In¬ 
begriff bloßer Gedankensetzungen darstellen würde. Im tiefsten 
Sinne scheint sich dem Wissen sein endgültiger Gehalt weder aus 
seiner Kraft zu einer objektiven und realen Erkenntnis der Er¬ 
scheinungswelt, noch aus der Strenge der formalen Ableitungen und 
den rationalen Verklammerungen dieser Ableitungen, also weder 
aus seinem empirisch-induktiven noch aus seinem rationalistisch¬ 
deduktiven Charakter zu ergeben. Die verschiedensten Systeme 
des ethischen Idealismus haben immer wieder den Beleg dafür zu 
erbringen gesucht, daß erst das Gute dem Rationalen seinen eigent¬ 
lichen Halt und Gehalt gewährt und seine Formalität zur vollen 
und würdigen Gestalt ergänzt. 
Ganz bezeichnend ist in dieser Beziehung das wirklich recht 
dialektische Verhältnis zwischen dem doch stolzen und selbst¬ 
bewußten Rationalismus der Aufklärungszeit und der entschiedenen 
Hinneigung dieser Epoche zum Moralismus. Das Zeitalter von 
Leibniz und Christian Wolf stellte den Rationalismus der Wissen¬ 
schaften und der Philosophie mit kühnem Vertrauen ein in den 
Dienst der moralischen Entwicklung der Menschheit und war fest 
davon überzeugt, daß die Vervollkommnung des Wissens auch eine 
Vervollkommnung der Sitten und Sittlichkeit bedinge. Dieses schon 
an sich enge Verhältnis zwischen dem Rationalismus und dem 
Moralismus wurde in einem außerordentlichen Maße noch dadurch 
vertieft, daß der schöpferische Grund, aus dem alles Wissen hervor¬ 
geht, nämlich die Ratio in ihrer höchsten Ausbildung Gott als dem 
Guten zugeschrieben wurde. Man überprüfe einmal, welche Wesens¬ 
bestimmungen von Gott damals ausgesagt wurden. Vor allem fällt 
immer wieder das durchgängige Fehlen einer eigentlich dämonischen 
und irrationalistischen Gottesauffassung auf. Es kam jener Zeit 
gar nicht in den Sinn und konnte ihr bei ihrem ausgesprochenen 
moralistischen Rationalismus und rationalistischen Moralismus auch 
Liebert, Dialektik. 9
	        
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