Full text: Grundlegung der Dialektik

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II. Von der Pflicht zur Metaphysik 
dieser Entwicklung konnte sich auch die Vorsicht des großen Ver¬ 
nunftkritikers nicht entziehen. Ja, hier wäre eine solche Vorsicht 
geradezu ein Zeichen unkritischer Zurückhaltung gewesen, als wenn 
der Philosophie die Aufstellung und die Bearbeitung einer Aufgabe 
untersagt würde, die sich ihr aus ihrem ganzen Sinn mit zwingender 
Notwendigkeit ergeben. 
Denn was wäre eine Philosophie, wo bliebe ihre metaphysische 
Tendenz, wenn ihr die Erfassung und die Aufhellung der Vernunft¬ 
einheit und die Ableitung der Vernunftprinzipien aus der Vernunft¬ 
wurzel versagt, und wenn der Hinweis auf die Undurchführbarkeit 
jedes derartigen Versuches mit einem Verbot dieses Versuches ver¬ 
bunden würden? Selbst ein tausendfaches Scheitern solchen Be¬ 
ginnens könnte ein derartiges Verbot nicht rechtfertigen. Denn 
schon in der Idee der Metaphysik, bereits in dem ideellen Entwurf 
des metaphysischen Rationalismus ist die Idee der Einheit der Ver¬ 
nunft und die Bezogenheit aller Einzelprinzipien auf diese Einheit 
beschlossen. Beide Ideen im Verein, diejenige der Vernunfteinheit 
und diejenige der Abhängigkeit aller Prinzipien von dieser Einheit, 
bilden das sachliche Apriori für die Metaphysik. Indem die Einheit 
der Vernunft gedacht wird, gedacht eben als Idee, wird damit 
implizit die Idee der Metaphysik mitgedacht und mitgesetzt. Und 
das Unternehmen der geordneten Ableitung aller Einzelformen der 
Vernunft aus jener Grundeinheit gehört zu den charakteristischen 
Wagnissen und Fährnissen, denen sich der Menschengeist und die 
aus ihm mit unwiderstehlicher Gewalt hervorbrechende Metaphysik 
trotz aller noch so häufigen Fehlschläge nicht entziehen dürfen. 
Dieses Wagnis selber ist ein überzeugender Beleg für die Dialektik 
des Geistes, und es hieße diese Dialektik verleugnen oder nicht 
verstehen wollen und den Zwang zur Metaphysik verkennen, wenn 
die Vielzahl der Mißerfolge einer solchen Deduktion die grund¬ 
sätzliche und dauernde Verzichtleistung auf jene Ableitung zur Folge 
hätte. 
Wie bezeichnend, wie lehrreich und wie mahnend ist es, daß 
Kant selber, in dem die denkbar lebendigste philosophische Ent¬ 
wicklung herrschte, und dessen Geisteshaltung die Züge der Spon¬ 
taneität aufwies, dem Zwang der Weiterführung der ,,Kritik“ der 
Vernunft zum ,,System“ der Vernunft Raum gab. Mit verlöschender 
Kraft machte er sich noch in dem Opus postumum an die Arbeit 
jener Deduktion, die er bei den Vertretern der spekulativen Philo¬ 
sophie, soweit er von ihrer Absicht Kenntnis bekam, nicht gut-
	        
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