122
II. Von der Pflicht zur Metaphysik
dieser Entwicklung konnte sich auch die Vorsicht des großen Ver¬
nunftkritikers nicht entziehen. Ja, hier wäre eine solche Vorsicht
geradezu ein Zeichen unkritischer Zurückhaltung gewesen, als wenn
der Philosophie die Aufstellung und die Bearbeitung einer Aufgabe
untersagt würde, die sich ihr aus ihrem ganzen Sinn mit zwingender
Notwendigkeit ergeben.
Denn was wäre eine Philosophie, wo bliebe ihre metaphysische
Tendenz, wenn ihr die Erfassung und die Aufhellung der Vernunft¬
einheit und die Ableitung der Vernunftprinzipien aus der Vernunft¬
wurzel versagt, und wenn der Hinweis auf die Undurchführbarkeit
jedes derartigen Versuches mit einem Verbot dieses Versuches ver¬
bunden würden? Selbst ein tausendfaches Scheitern solchen Be¬
ginnens könnte ein derartiges Verbot nicht rechtfertigen. Denn
schon in der Idee der Metaphysik, bereits in dem ideellen Entwurf
des metaphysischen Rationalismus ist die Idee der Einheit der Ver¬
nunft und die Bezogenheit aller Einzelprinzipien auf diese Einheit
beschlossen. Beide Ideen im Verein, diejenige der Vernunfteinheit
und diejenige der Abhängigkeit aller Prinzipien von dieser Einheit,
bilden das sachliche Apriori für die Metaphysik. Indem die Einheit
der Vernunft gedacht wird, gedacht eben als Idee, wird damit
implizit die Idee der Metaphysik mitgedacht und mitgesetzt. Und
das Unternehmen der geordneten Ableitung aller Einzelformen der
Vernunft aus jener Grundeinheit gehört zu den charakteristischen
Wagnissen und Fährnissen, denen sich der Menschengeist und die
aus ihm mit unwiderstehlicher Gewalt hervorbrechende Metaphysik
trotz aller noch so häufigen Fehlschläge nicht entziehen dürfen.
Dieses Wagnis selber ist ein überzeugender Beleg für die Dialektik
des Geistes, und es hieße diese Dialektik verleugnen oder nicht
verstehen wollen und den Zwang zur Metaphysik verkennen, wenn
die Vielzahl der Mißerfolge einer solchen Deduktion die grund¬
sätzliche und dauernde Verzichtleistung auf jene Ableitung zur Folge
hätte.
Wie bezeichnend, wie lehrreich und wie mahnend ist es, daß
Kant selber, in dem die denkbar lebendigste philosophische Ent¬
wicklung herrschte, und dessen Geisteshaltung die Züge der Spon¬
taneität aufwies, dem Zwang der Weiterführung der ,,Kritik“ der
Vernunft zum ,,System“ der Vernunft Raum gab. Mit verlöschender
Kraft machte er sich noch in dem Opus postumum an die Arbeit
jener Deduktion, die er bei den Vertretern der spekulativen Philo¬
sophie, soweit er von ihrer Absicht Kenntnis bekam, nicht gut-