2. Das intellektuelle Motiv
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Zeit und nach Form wie Gegenstand in einem höheren Ausmaße
zeitbedingt als die Metaphysik. Indem sich diese jedoch der posi¬
tiven Forschung bemächtigt, befreit sie dieselbe durch die Betrach¬
tung sub specie aeterni zwar von den Engen zeitgeschichtlicher Ab¬
hängigkeit, nimmt ihr jedoch die erwähnte Eigenschaft, Spiegelbild
der Zeit in ihrer Weise zu sein, und erhebt sie in eine ungeschicht¬
liche Ruhe, in der von dem Auf und Nieder der besonderen Lebens¬
strömungen, von der Konkretheit empirischer Ansätze und be¬
sonderer Problemstellungen kaum noch eine Spur übrigbleibt. Die
großen enzyklopädischen Synthesen der Metaphysik sind auf eine
geringe Anzahl von Typen zurückführbar, und diese Typen ähneln
sich außerdem in auffallender Weise. Das muß so sein. Denn durch
sie ist alles Konkrete und Empirische in ein Allgemeines und Prin¬
zipielles umgewandelt. Wird doch dieser Umwandelungsprozeß aus¬
drücklich in der Absicht unternommen, die empirisch-geschicht¬
lichen Bestände ins Metaphysische zu erheben, aus ihnen ihren
absoluten Sinn herauszuholen und so ihre empirischen und konkreten
Züge zu tilgen. Wir wollen an dieser Steile auf das Recht und den
Wert eines solchen metaphysischen und abstrahierenden Verfahrens
nicht eingehen, sondern nur im allgemeinen auf die eigentümliche
Umbildung aufmerksam machen, von der die positive Forschung
durch jenes Verfahren betroffen wird, und die geeignet ist, ein nicht
völlig unberechtigtes Mißfallen seitens des positiven Forschers her¬
vorzurufen. —
Hätte demnach die Metaphysik gar keine Befugnis gegenüber
der positiven Wissenschaft ? Ein entsprechendes Zugeständnis würde
sich in dem Munde eines Metaphysikers, und ein solcher will der
Verfasser dieser Zeilen sein, mehr als seltsam ausnehmen. Hat sich
nicht seit jeher der metaphysische Rationalismus und Idealismus
um die konkreten Wissenschaften angelegentlich gekümmert und
bemüht, um unter ihrer Zuhilfenahme ein Weltbild aufzurichten,
dessen Gediegenheit durch jene Berücksichtigung gewährleistet war?
Es braucht hier nur an das berühmte Beispiel erinnert zu werden,
das die Philosophie des Descartes darstellt. Beruht diese Philo¬
sophie nicht in allen wesentlichen Punkten nach Form wie Inhalt
auf der denkbar intensivsten Heranziehung und Ausnutzung der
Mechanik Galileis? Und gehört die Berücksichtigung der positiven
Wissenschaften nicht schlechterdings zu den Grundpflichten der
Metaphysik? Woher bekäme diese das Material für ihren Bau,
Liebert, Dialektik. 8