Full text: Grundlegung der Dialektik

2. Das intellektuelle Motiv 
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aus der machtvollen Bedeutung, den die griechische Mathematik für 
fast sämtliche Zusammenhänge des griechischen Lebens gewann. 
Und von jener Zeit an hat die Mathematik ihre Herrschaft inmitten 
der abendländischen Kultur nicht nur aufrechterhalten, sie hat ihre 
Stellung auch nach jeder möglichen Richtung hin erweitert; sie hat 
das gesamte abendländische Denken durchdrungen und ihren Sieg 
gekrönt in der Erreichung der Weltmachtstellung der Technik. 
Wie sehr wir gegen die Alleinherrschaft des metaphysischen 
Idealismus und Rationalismus auch immer ankämpfen, welche 
Schwächen wir ihm auch nachsagen mögen, er gehört nun einmal 
zu den unaustilgbaren Wesensbestandteilen der ganzen europäischen 
Kulturentwicklung und ist aus der Gestalt unseres Geistes nicht 
wegzudenken und nicht zu entfernen. So wird auch die ganze abend¬ 
ländische Kulturentwicklung auf Schritt und Tritt von den ver¬ 
schiedensten Spielarten des metaphysischen Rationalismus begleitet. 
Er ist ebensosehr der logische Ausdruck dieser Entwicklung als auch 
ein sie außerordentlich förderndes Moment, ein kräftiger Antrieb 
für ihre Leistungen, eine grundlegende Macht für ihr Schicksal. 
Wir betonen es bereits an dieser Stelle und werden im Fortgang 
unserer Arbeit noch wiederholt darauf zu sprechen kommen, daß 
der metaphysische Rationalismus keineswegs bloß eine abgesonderte 
Theorie, kein bloßes abstraktes Ergebnis weltfremder philosophischer 
Grübeleien darstellt. Er verkörpert vielmehr eine der wirkungsvollsten 
Gestalten des Geistes und ist von einer geradezu unvergleichlichen 
Tragweite auch für die Praxis des Lebens in allen dessen Sinn- 
und Betätigungsrichtungen geworden. Der Sturmlauf gegen ihn, der 
ab und zu unternommen und durch die verschiedenartigsten Be¬ 
gründungen gestützt wurde, erwies und erweist sich stets als ein zum 
einen Teil unsinniges, zum anderen Teil ergebnisloses Bemühen. Der 
Rationalismus ist nicht nur durch die Zahl und die innere Bedeu¬ 
tung seiner Erfolge, auch nicht nur dadurch, daß er tatsächlich zu 
den maßgebenden Bildungsfaktoren der gesamten abendländischen 
Kultur gehört, gerechtfertigt, sondern ihm eignet noch weit darüber 
hinaus die Wichtigkeit einer unerläßlichen Bedingung für den ganzen 
Umfang unseres geistigen Gedeihens. Auf Grund dieser Einsicht 
sollte der Wissenschaftler und der Philosoph gegen die Anwandlung 
sentimentaler Stimmungen gefeit sein und der Nachgiebigkeit gegen 
Gefühlsregungen aus seiner eigenen Brust oder aus der Zeit heraus, 
die für eine „Gefühlsphilosophie“ Propaganda machen, Trotz bieten. 
Äußert sich darin nicht eine mahnende Lehre, daß die eigentlichen
	        
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