98 I. Typische Einwände gegen die Metaphysik und Kritik dieser Einwände
Gerade umgekehrt liegt der Fall bei der Autonomie der Metaphysik.
Von ihr ist die dialektische Zweideutigkeit nicht abzustreifen; und
ihre Paradoxie bekundet sich in der einzigartigen Allgegenwart ihrer
Stellung im Geistesleben und in ihrem allgegenwärtigen Einflüsse auf
dasselbe. Die Metaphysik ist weder ausschließlich Wissenschaft,
noch ausschließlich ein Ausdruck der Moralität, noch bloß ein
Erzeugnis künstlerisch-bildnerischer Fügung, noch endlich bloß ein
Niederschlag religiöser Sehnsüchte, sondern sie ist alles das zu¬
sammen in einer neuen und einzigartigen dialektischen
Verknüpfung: Sie ist, einmal ganz knapp ausgedrückt, die
dialektische Einheit und einheitliche Dialektik sämt¬
licher Möglichkeiten und Wirklichkeiten des Geistes.
Die Ausführungen unserer ganzen Schrift erübrigen es, die Ver¬
sicherung abzugeben, daß die Bezeichnung der dialektischen Zwei¬
deutigkeit der Metaphysik nicht im Sinne des Tadels oder auch nur
der geringsten Mißachtung gemeint ist. Wir wollen durch jene An¬
gabe nicht nur die Eigenart, sondern auch die unverwechselbare
Einzigartigkeit der Metaphysik und damit sozusagen ihre Über¬
legenheit über sämtliche anderen Einzelgestalten des Geistes zum
Ausdruck bringen.
Also regt sich auch in uns so etwas wie ein Hochmut? Subjektiv
gesehen gewiß nicht. Schon darum nicht, weil wir in dem Zusammen¬
hang unserer Darlegungen fort und fort die ,,Problematik“ der Meta¬
physik, ihre Unvollendetheit und ewige Unvollendbarkeit aufdecken
und betonen. Dieser Charakterzug ihres Wesens umschließt sogar
eine gewisse Unterlegenheit denjenigen Gebieten der Kultur gegen¬
über, denen die Erreichung einer, wenn auch nicht vollständigen und
dauernden, so doch immerhin relativen und vorübergehenden Fertig¬
keit ihrer Ergebnisse möglich ist. Zwar genießt keine Gestalt und
keine Leistung der Kultur den Vorzug unbedingter, von jeder inner¬
lichen Problematik freien, erneuter Lösung unbedürftigen Voll¬
kommenheit. Was Menschengeist immer ersinnt und schafft, bleibt
in die Zone der Endlichkeit und Unzulänglichkeit gebannt. Diese
unaufhebbare Problematik haftet der Metaphysik jedoch in einem
höheren Grade als den anderen Werken und Gestalten des Geistes
darum an, weil sie gemäß dem in ihr waltenden Logos unmittelbar
aus der Dialektik des Geistes hervorgetrieben und weil sie sozusagen
zu dem Behufe ersonnen und entwickelt wird, die Problematik des
Seins in Theorie und Praxis, in Gedanke und Tat in der Sprache
der Begriffe wiederzugeben. Im Hintergründe aller einzelnen Lebens¬