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I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
Nichtachtung, die er ihr angeblich entgegenbrachte, an feindseliger
Schärfe schlechterdings nichts zu wünschen übrig. Aber ob er die
Metaphysiker als Betrüger beschimpfte, ob er ihre Schöpfung einen
sträflichen Trug und einen gefährlichen Wahn und die Ausgeburt
hirnkranker Scharlatane nannte, die die gesunden Grundlagen des
Lebens verbrecherisch vergiften, die nichts als Blutsauger und Ver¬
ehrer des Fetischs der Grammatik seien — dennoch hat er die schein¬
baren Beweisgründe gegen die Metaphysik um keinen einzigen neuen
Gedanken vermehrt. Bewundernswert bleibt nur, wie er sowohl in
„Jenseits von Gut und Böse“, „Zur Genealogie der Moral“, „Der
Wille zur Macht“ und noch sonst immer wieder neue und schneidend
kraftvolle Wendungen findet, um der zeitgenössischen Gering¬
schätzung der Metaphysik einen sprachlichen und künstlerischen
Ausdruck zu geben. Er hat sich selber oft und mit allem Nachdruck
als einen der unabhängigsten Denker bezeichnet. Tatsächlich ist
er jedoch keineswegs so unabhängig, wie er glaubt und glauben
machen will, falls wir von seiner einzigartigen Sprachkunst ab-
sehen und den Blick auf den Gehalt seiner Gedanken selber richten.
Auch in jenen Ansätzen zu einer biologisch orientierten Metaphysik,
von denen wir weiter oben sprachen, ist er nicht so originell, wie er
behauptet. Es mag genügen, in diesem Zusammenhang und in diesem
Betracht auf Eduard von Hartmann hinzuweisen, dessen „Philo¬
sophie des Unbewußten“ ebenfalls mehr als einen biologischen Zug
in sich trägt und von der naturwissenschaftlich-darwinistischen Ent¬
wicklungslehre, die um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts die
Wissenschaft und die Gemüter allgemein beherrschte, tiefgehende
Anregungen erfahren hat. Nur daß von Hartmann, und darin wohl
Nietzsche überlegen und im voraus, ein freimütiges Bekenntnis
seiner Liebe zur Metaphysik ablegte, ihre zentrale Bedeutung für
die Philosophie und für das Geistesleben überhaupt hervorhob und
durch eigene Leistungen ihre Entwicklung förderte. In Nietzsche
hinwiederum spiegelt sich, wie in Dilthey und in Lange, der Geist
seiner Zeit mit verführerischer Eindruckskraft. Alles, was seine
Jahrzehnte bewegt, ihren Glauben und ihren Unglauben, ihre Ver¬
klammerung in die Fesseln des Relativismus, Positivismus, Historis¬
mus, Psychologismus usw., sowie ihr dunkles und erst in tastenden
Ansätzen vorliegendes Bemühen um eine Überwindung dieser Rich¬
tungen arbeitet und ringt in seinem Geiste und in seinen Werken.
Er selber ist ein großes historisches Phänomen und eine unentbehr¬
liche Brücke zwischen den Zeitaltern. Ohne Zweifel gehört er zu