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I. Typische Einwände gegen die Metaphysik
faßt. Von der wahren und eigentlichen Dichtung der Poesie unter¬
scheide sie sich sehr zu ihrem Nachteil, weil sie nicht klar und
sauber vorgehe. Die wahre und eigentliche Dichtung vollzieht eine
bewußte Täuschung; denn sie weiß und sagt es, daß diejenige Wirk¬
lichkeit, die sie vor uns hinstellt, keine objektive Realität habe,
sondern nur ein Erzeugnis der Einbildungskraft sei und den Charakter
phantastischer Irrealität trage. Die Metaphysik hingegen will uns ein-
reden, es gäbe eine absolute, von unserer Vorstellung unabhängige,
für sich bestehende Wirklichkeit, ohne für eine solche Behauptung
einen einwandfreien und überzeugenden Grund, nämlich eine positive,
am Prinzip der naturwissenschaftlichen Kausalauffassung orientierte
Begründung, wie solche allein den Anforderungen der Wissenschaft
entspräche, beibringen zu können. Die von der Kunst errichtete
Wirklichkeit zieht ihr Recht aus der Kraft der Phantasie, und diese
Kraft ist ausreichend für die Erhärtung derjenigen Geltung, die die
Wirklichkeit der Kunst genießt und besitzt. Die von der Meta¬
physik entwickelte Wirklichkeit ist eine leere Täuschung, eine
inhaltslose Fiktion. Eine derartige Wirklichkeit ist in keiner Sinn¬
richtung „wirklich“; sie kann gar nicht sein, da die Synthesis,
auf die sie sich stützen würde, nicht nur von den logischen Formen
des Verstandes und von der geistigen „Organisation“ des Menschen
abhängig ist, sondern auch von dem empirischen Material physio¬
logisch bedingter Sinneseindrücke. Lange stimmt der subjektivisti-
schen Deutung der menschlichen Erkenntnis durch Schopenhauer
zu: Die Welt ist und bleibt unsere Vorstellung, ferner der subjekti-
vistisch-soziologischen Auffassung von Herbert Spencer: Sie ist ein
Produkt der Organisation der Gattung. Gemäß der von ihm ver¬
tretenen und zweifellos durch Helmholtz beeinflußten „physiologi¬
schen“ Auslegung des kantischen Kritizismus beruft Lange sich auf
die Entscheidungen der Vernunftkritik, die unwiderleglich gezeigt
hätten, daß alle Synthesen unabtrennbar an subjektive Bedingungen
gebunden seien, und daß sie jeden gegenständlichen Wert ein¬
büßen, sobald sie sich zu einer Befreiung von den regelnden Prin¬
zipien der Erfahrung erheben. Die Metaphysik als „Begriffsdichtung“
spiegelt uns nicht bloß die Chimäre einer Wirklichkeit vor, sondern
ihre Synthesen sind nichtssagende Begriffsverschlingungen, denen
der leitende Zwang der Grundsätze der Erfahrung fehlt.
Sowohl Plato als auch Kant ernten einen entschiedenen Tadel,
weil sie nicht eingesehen haben, daß die „intelligible Welt eine Welt
der Dichtung“ sei. Schritt für Schritt treibt der Metaphysiker Mi߬