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IX. Kapitel
DIE KOMPOSITION DER KIRCHEN
§ 61
Mangel eines besondern kirchlichen Formensystems
Die Renaissance konnte keinen eigenen organischen und auch keinen
eigenen sakralen Stil ausbilden im Sinne des griechischen Tempelstils und
des nordisch-gotischen Kirchenstils. Sie wendet im Kirchenbau die anti¬
ken Formen und Anlagen an aus Bewunderung, weil sie dieselben für das
Vollkommenste hält, braucht sie dann aber ohne Bedenken auch im Pro¬
fanbau.
Die Schöpfung eines organischen Stiles hängt von hoher Anlage und
hohem Glück ab, namentlich von einem bestimmten Grade unbefan¬
gener Naivität und frischer Naturnähe, und es hat seine Gründe, daß
das Phänomen nur zweimal in der Kunstgeschichte vorgekommen ist.
Einen bloß sakralen Baustil aber haben auch die rohen Urvölker und
es ist ein Aberglaube, daß ein solcher einem Volke oder einer Kul¬
turepoche größere Ehre bringe als ein abgeleiteter Stil, welcher ja im
Dienst einer nicht minder starken religiösen Absicht stehen und in ent¬
lehnten Einzelformen eigene und neue Gesamtgedanken ausdrücken
kann. So hatte die altchristliche Baukunst nicht bloß die Einzelformen,
sondern sogar die Baustücke von profanen wie von heiligen Römer¬
bauten entlehnt und damit ihr großes Neues geschaffen.
Nun hat aber der abgeleitete Stil seine eigenen und großen Auf¬
gaben, welche ein organischer Stil gar nicht würde innerhalb seiner
Gesetze lösen können.
Er hat zunächst als Raumstil (§ 30, 32) ein Recht auf die Formen der
vor ihm dagewesenen organischen und anderen Stile und soll sie nach
seinem innern Bedürfnis aufbrauchen, wobei ihn sein Genius führen
wird. Er kann vielleicht einzelne dieser Formen noch für spezifisch
sakral halten, und auch die Renaissance hat einige Fenster- und Tür¬
formen anfangs wirklich dafür angesehen, bis der Palastbau dem Kir¬
chenbau diese Formen und sogar (mit Palladio) den Frontgiebel ab¬
nahm. Charakter und Bestimmung des Baues sind hier nur in der Ge¬
samtform ausgedrückt; das Detail ist dem Heiligen und dem Profanen
gemeinsam.
Sehr bedenklich aber ist es, sich auf die geringere Religiosität des
damaligen Italiens im Vergleich mit der gotischen Blütezeit des Nor¬
dens zu berufen, ganz als ob man Religiosität und kirchliche Recht¬
gläubigkeit unserer nordischen Baumeister des 13. und 14. Jahrhun¬
derts genau messen könnte. Auf der andern Seite haben auch die sehr
frommen Italiener der Renaissance nicht heiliger gebaut als ihre Zeit-
und Kunstgenossen.