Das Sollen
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so oft selbst zur Anzeige bringt. Auch bei unserem primi¬
tiven Menschen fanden wir es schon (S. 7). Es gehört,
ganz wie die Fähigkeit zur Logik und Mathematik, zum
Wesen des Menschen überhaupt. Ist es doch im Grunde
nichts als eine besondere Form des Denkens, wenn wir
unter „Denken“ das bewußte Erfassen von Bedeutun¬
gen und Bedeutungszusammenhängen überhaupt ver¬
stehen. Das sogenannte Gewissen ist also nichts anderes
als eine bestimmte Denkform in diesem Sinne und unter¬
scheidet sich von anderen Denkformen nur durch die be¬
sondere Stärke des Gefühlstones, der mit ihrer Be¬
tätigung, zumal wenn sie auf die eigene Person sich
richtet, verbunden ist. Aber gewisse Gefühlstöne sind mit
allem denkhaften Erfassen verbunden, wie jeder weiß,
dem der klare Blick in einen verwickelten mathematischen
oder sachlichen Zusammenhang vergönnt war: auch da
„freut man sich“.
Eine besondere Eigentümlichkeit gerade des sittlichen
Erfassens ist hier nun freilich die, daß, zumal in bezug auf
mein eigenes Wollen und Handeln, der Ton der Unlust,
welcher dem, was nicht hätte sein sollen, anhaftet, soviel
stärker ist als der Ton der Lust, der mit dem, was sein
sollte, also kurz: dem „Guten“, verknüpft ist. Jeder weiß
das; jeder weiß, daß Reue über eigene Handlungen,
welche sittliche Billigung nicht vertragen, uns Jahre, ja
jahrzehntelang begleiten kann, ja, noch dann, wenn der,
dem ich etwas Übles antat, die Sache längst vergessen
hat und auch gar keine üblen Folgen der üblen Tat mehr
vorhanden sind. Diese seltsame Sachlage wird uns später
noch einmal beschäftigen.
Es soll hier nun keine „Ethik“ geschrieben werden. Sie
ist ein ebenso mühevolles wie undankbares Unternehmen,
dem ich mich vor kurzem selbst, aus innerem Zwange,
unterzogen habe1). Mühevoll, weil, wenn man nicht ganz
im Allgemeinen bleiben will, ein außerordentlich mannig¬
faltiger Stoff aus allen möglichen Gebieten des Wissens
berücksichtigt werden muß, und undankbar, weil gerade
’) Die sittliche Tat, 1927.