Das Sollen
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und daß seine angebliche Belehrung in Wahrheit Sug¬
gestion ist. Dasselbe gilt in noch höherem Maße vom
Prediger.
Soll das so sein? Sollten nicht beide, Lehrer und Pre¬
diger, eine viel tiefere Bildung in der Psychologie und
namentlich der sogenannten Tiefenpsychologie besitzen,
als es heute noch meist der Fall ist?
II. Das Sollen
Ja — soll das so sein?
Was heißt denn das? Stehen wir nicht plötzlich vor
einer ganz neuen Frage?
Wir wissen jetzt, was Wollen und Handeln heißt, und
wissen, was alles wir wollen können und was dann durch
unseren lebendigen Leib oder unsere Seele ausgeführt
wird. Aber daß etwas gewollt und getan werden soll,
davon war noch mit keinem Wort die Rede.
„Das soll geschehen“, so sagt wohl der Herr, der Be¬
fehlshaber, der „willensstarke“ Mensch überhaupt. Aber
von diesem wohl gar mit Drohung verbundenen „Sollen“
reden wir hier ganz und gar nicht. Wir reden vielmehr
davon, ob dieses „Sollen“, das ja nur Ausdruck des star¬
ken Willens eines Menschen ist, oder, anders gesagt, ob
eben dieser sein Wille oder irgendeines anderen Wille, so
wie er ist, sein und sich dann in die Tat umsetzen — soll.
Nicht der Befehlshaber befiehlt hier, sondern ihm wird
durch das, was wir mit dem Worte „sollen“ meinen, „be¬
fohlen“.
Freilich — wer ist es denn, der hier „befiehlt“; und
handelt es sich um ein wirkliches Befehlen? Dieses setzt
doch wohl zwei bewußte Subjekte voraus, und die sind
bei unserem „Sollen“ nicht vorhanden. Erlebe ich doch
ganz für mich allein, und ebenso jeder andere Mensch,
daß ich etwas „sollte“ oder „nicht sollte“, „gesollt hätte“
oder „nicht gesollt hätte“. Wollten wir aber sagen, wir
befehlen „uns selbst“ etwas, so wäre wohl kein ganz klarer
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