Full text: Unter den Brücken der Metaphysik

DAS LEBEN GOETHES 
Jede Biographie ist eine Universalgeschichte 
»Das Gewissen der Sterbenden verleumdet ihr Leben«, sagt Vau- 
venargues. Aber wie könnte man den Sterbenden Unrecht geben? 
Das Leben ist ganz Oberfläche, der Tod Tiefe. Das eine ist Zeit, 
das andere Ewigkeit. »Im Angesicht des Todes zieht die Seele einen 
unbestechlichen Vergleich zwischen Zeit und Ewigkeit und erkennt 
deutlich, daß all ihre bisherigen Vorstellungen darüber von der 
Wahrheit unendlich weit entfernt waren; daß ihre Phantasie der 
Zeit und den zeitlichen Dingen ganz übermäßige Dauer und Größe 
beigemessen hatte ... Die Seele tut deshalb alle diese Gedanken 
ab; sie staunt über ihre Verblendung und ändert ihre Ansichten 
und Urteile völlig.« 
So spricht der Sterbende, und was soll ihm der Lebende erwidern? 
Vielleicht sagt er: ist es denn nichts, daß du gelebt hast, genügt 
es dir denn nicht, daß du da warst? Er ruft dem andern die warme 
Sonne in Erinnerung, und wie schön es war zu fühlen, daß man 
lebte. Er preist das Leben und den Lebensdrang, der alle Wesen 
durchzieht und an dem alle nacheinander teilhaben. Aber kann er 
damit das Bild des Lebens wieder herstellen, das der andere auf¬ 
gegeben hat? 
Ich glaube es nicht. Gelebt zu haben, das hat für den Sterbenden 
alle möglichen Dinge, eben zeitliche Dinge bedeutet. Er wollte dir 
von einer Reise oder einer Begegnung erzählen, von einem Ort, 
an dem er geweilt, von einem Haus, das ihn beherbergt hatte, 
— von tausend anderen Dingen. Aber vor der Ewigkeit ist er ver¬ 
stummt. Aber wie könnte der Lebende, der ihm vom Lebensdrange 
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