MEISTER ECKEHART
Seit die Seelen Gott nicht mehr lieben, bringen sie ihm Respekt
entgegen. Sie sprechen von ihm wie von einer offiziellen Persön¬
lichkeit, die man nicht kennt, deren Titel man aber weiß. So sagen
sie, wenn sie ihn anreden: »Hochzuverehrender Herr« und ver¬
wenden Höflichkeitsfloskeln wie: »Dürfte ich es wagen?« oder
»Gestatten Sie ... ?« (Sie bedienen sich auch des Possessivprono¬
mens und sagen: »mein Gott«, aber ungefähr so, wie man sagt
»mein sehr verehrter Herr«.)
Als die Seele und Gott jung waren, war das ganz anders. Sie wett¬
eiferten miteinander, wer am besten liebe. Die Seele gab sich
demütig und ihre Demut machte sie so mächtig, daß Gott zu ihr
kam und sich ganz klein machte, um bei ihr Schutz zu suchen.
Sagte man ihr, Gott sei gut und sie schulde ihm Dank für seine
Güte, so errötete sie und gab keine Antwort; denn sie wußte, daß
Gott sie liebte und ihr nicht widerstehen konnte.
Sie wollte auch nicht, daß man ihr von den Gaben Gottes sprach;
denn sie wußte, daß alles in Gott ihr gehörte, und daß sie nur zu
nehmen brauchte, was sein war. Sagte man ihr: »Erflehe die Gnade
des Herrn!« so wurde sie ganz verwirrt und wußte nicht, was sie
sagen sollte. Ist der, den ich liebe, denn mein Herr und mein
Meister? Wie kennen sie ihn schlecht, die von ihm sprechen, als sei
er ein Fremder! Er kommt zu mir, und das Seine wird Meines, und
ich werde sein: Ich bin Gott in Gott, und Gott: meine Seele.
Man braucht also keine Unterscheidung zwischen ihm und mir zu
machen, man braucht nicht zu erforschen, was hoch und was tief
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