Full text: Unter den Brücken der Metaphysik

davon kann nicht die Rede sein. Wenn wir auf unsere Kindheit 
zurückblicken, dann nicht, um die Welt zu verstehen, sondern um 
uns selbst zu verstehen. Wir waren damals Anfänger in der Kunst, 
die Welt zu deuten, und wer käme auf den Gedanken, Anfänger 
um Auskunft zu fragen? Die Kindheit ist das Alter, wo man noch 
nichts weiß. Und das ist gewiß wahr, denn wäre die Welt etwas, 
das man kennen und wissen kann, so könnten wir keine Fragen 
mehr stellen, und die Kindheit wäre genaugenommen nur eine 
Zeit der Vorbereitung, ein an sich unnützes Lebensalter, wenigstens 
was das Verständnis der Dinge betrifft. Man gibt zu, daß es ein 
dem Kind eigentümliches Glück gibt, daß man aufs sorgfältigste 
den Eigencharakter der Kindheit wahren muß. Man muß, sagt man, 
das Kind Kind sein lassen. Aber hinsichtlich der Erfahrung, die 
das Kind von der Welt hat, ist es nur ein Schüler. Und was könnte 
uns wohl ein Schüler beibringen, zumindest in bezug auf das, was 
wir lernen müssen? 
Das ist der Grund, warum wir so besondere Beziehungen zu unserer 
Kindheit haben. Wir fragen das Kind nicht, was wir waren, wie 
ihm damals die Welt erschien, sondern von der Höhe des von uns 
erworbenen Wissens rekonstruieren wir für das Kind die Welt, 
die es sah, als es anfing zu sprechen, die Welt, die es damals leiden 
ließ oder glücklich machte. Wir erinnern uns zum Beispiel an farbige 
Scheiben und gedämpftes Licht. Wir sagen jetzt: »Die farbigen 
Scheiben waren in dem und dem Zimmer, in dem und dem Haus, 
in der und der Stadt.« Das sind aber alles Tatsachen, von denen 
wir damals nichts wußten. Wissen wir übrigens wirklich sicher, 
daß die Scheiben farbig waren und daß das Licht damals gedämpft 
war? Nicht nur, daß wir nicht von dem sprechen, woran wir uns 
wirklich erinnern — wir lassen höchstens gelegentlich am Rande 
einfließen: »Ich erinnere mich noch daran« oder: »nach meiner 
Erinnerung ...«, aber nur, um sofort den Gegenstand, dessen man 
sich erinnert, über alle Erinnerungen hinauszuheben —, sondern 
wir halten uns auch nicht an die Art und Weise, auf die wir uns 
erinnern. Übrigens dürfte das unmöglich sein. Die Worte, deren 
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