DAS KIND UND DER METAPHYSIKER
Wir sind kaum dessen bewußt, was wir in unserer Kindheit waren.
Meist scheint uns, daß die Welt, die wir damals betrachteten, die
gleiche war wie die, die wir jetzt kennen — mit dem einzigen
Unterschied, daß wir sie damals nicht kannten. Es stellt sich unge¬
fähr so dar: zuerst war die Welt da, die Welt, wie wir sie heute
wahrnehmen, und am Anfang, als wir gerade auf die Welt ge¬
kommen waren, wußten wir nur sehr wenig von ihr. Erst ganz
allmählich lernten wir sie kennen. Deshalb beginnen fast alle
Jugenderinnerungen damit, in welcher Stadt wir geboren wurden,
wer unsere Eltern waren, und allgemein mit der Beschreibung
unserer Umgebung. Und doch liegt es auf der Hand, daß wir das alles
damals nicht so kannten. Die »Stadt« war damals keine Stadt, die
»Eltern« waren nicht die in Frage stehenden Personen, und alles uns
Umgebende war nicht das Objektive, von dem wir jetzt sprechen.
So war die Welt gemacht, denkt man, aber wir wußten es nicht; es
war eine Lehrzeit.
Man räumt freilich auch ein, daß es so etwas wie die Kinderseele
gibt, besondere Formen des Begreifens und Empfindens, die dem
Kind eigentümlich sind. Aber damit gibt man die Idee auf, daß
unsere Welt etwas Gegebenes und nur die Art und Weise, in der
die Seele sie wahrnimmt, eine andere ist. Daher die Meinung,
Jugenderinnerungen seien nur insoweit von Interesse, als sie uns
über den Charakter eines Menschen oder auch über die menschliche
Seele allgemein Auskunft geben. Was den Glauben angeht, sie
könnten unserem Wissen von der Welt etwas Neues beibringen:
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